„Das langsame Sich-Gewöhnen an Inakzeptables.Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen.“

Die Rede von Bundespräsident Alexander Van der Bellen zum Nationalfeiertag 2018

Guten Abend meine Damen und Herren!

Am 26. Oktober 1955 wurde das Bundesverfassungsgesetz über die österreichische Neutralität beschlossen, nachdem der letzte Besatzungssoldat unser Land verlassen hatte. Daran erinnern wir uns heute am Nationalfeiertag. Wir erinnern uns in diesem Jahr aber auch an die hundertste Wiederkehr der Gründung der Republik am 12. November 1918.

Viel hören wir in diesen Tagen über die bewegte Geschichte unseres Landes, über die hellen und dunklen Kapitel unserer Vergangenheit, über schöne und schwierige Zeiten. So wie wir heute dastehen, können wir stolz sein auf das, was wir gemeinsam erreicht haben. Daran besteht kein Zweifel.

Aber lassen Sie uns die Gelegenheit heute vor allem nützen, um über unsere Zukunft nachzudenken. Wie wird unser Land in 100 Jahren aussehen? Wie soll unser Österreich in 100 Jahren aussehen?

Sehen Sie, ich bin Optimist. Ich glaube an unser Land. Ich glaube an unsere Zukunft.

Ich glaube daran, dass wir (und das nicht erst in 100 Jahren) das Problem der Armut gelöst haben werden. Und dass die Schere zwischen Arm und Reich, die sich jetzt noch auftut, geschlossen sein wird. Ich glaube daran, dass alle Kinder, egal aus welchem Elternhaus sie kommen, die gleichen Chancen haben werden.

Ich glaube daran, dass das Klimaproblem gelöst sein wird, und wir unsere Erde lebenswert bewahren werden. Und daran, dass es unserer Wirtschaft gut geht, ohne dass das auf Kosten unserer Umwelt geht. Ich glaube daran, dass wir die vollständige Gleichstellung von Frau und Mann erreicht haben werden. Auch, wenn das jetzt noch nicht so ist.

Wir können all das und mehr hinbekommen, wenn wir es wirklich wollen. Ich lade Sie ein, diesen Optimismus mit mir zu teilen. Denn um die Zukunft erfolgreich zu gestalten, brauchen wir Zuversicht. Weil die Zuversicht uns Dinge erhoffen, erträumen und schließlich erschaffen lässt. Darin waren wir in Österreich immer gut.

Aber seien wir nicht naiv. Von selber wird das nichts. Wir müssen schon alle gemeinsam daran arbeiten, denn Gefahren gibt es genug. Die Polarisierung und die Unversöhnlichkeit, die sich nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt breitmachen. Die Verächtlich machung der Andersdenkenden, des Mitgefühls und der Mitmenschlichkeit. Ein dunkler Zukunftspessimismus. Die scheibchenweise Radikalisierung der Standpunkte. Das langsame Sich-Gewöhnen an Inakzeptables. Wir dürfen uns nicht daran gewöhnen. Lassen wir uns nicht einreden, Mitgefühl zu zeigen, sei weltfremd. Lassen wir uns nicht einreden, ausschließlich an sich selber zu denken sei das einzig Kluge, Realistische und die eigentlich wünschenswerte Norm.

Wir dürfen nicht zulassen, dass die Normen sich verschieben und wir stumpf werden. Wir dürfen nicht zulassen, dass das Recht des Stärkeren das Maß aller Dinge wird.

Es gibt rote Linien, die nicht überschritten werden dürfen. Nicht das Recht des Stärkeren hat zu gelten, sondern die Plicht des Stärkeren. Die Pflicht, denen zu helfen, denen es nicht so gut geht.

Den Respekt und die Achtung, die wir von anderen Menschen erwarten, diesen Respekt und diese Achtung müssen wir auch anderen gegenüber aufbringen. Achtung und Respekt vor jedem Menschen. Denn jede und jeder von uns ist eines ganz sicher: einzigartig und auf ganz eigene Weise liebenswert.

Aber, wie gesagt, ich bin guten Mutes, dass wir das schaffen. Denn wir haben etwas ganz Besonderes, das uns in Zeiten der Polarisierung ganz besonders hilft und immer geholfen hat: Das Österreichische. Was das Österreichische ausmacht? Anders als der radikale Standpunkt, der alles verachtet, was von der „reinen Lehre“ abweicht, nimmt das Österreichische die Realität zur Kenntnis.

Es nimmt zur Kenntnis, dass die Welt eben nicht aus Schwarz und Weiß, aus unversöhnlichen Positionen besteht, sondern dass eine Lösung zum Wohle aller immer in der Mitte liegt. Das hat uns in den letzten 100 Jahren erfolgreich gemacht. Immer, wenn wir das vergessen haben, sind wir blutig gescheitert.

Denn nur im immer währenden Streben nach dem Gemeinsamen liegt das größtmögliche Wohl aller. Das hat uns in der Vergangenheit groß gemacht und das wird uns auch in Zukunft helfen.

Das Österreichische ist Teil von uns allen, die wir in diesem Land leben. Und gibt es einen besseren Anlass, sich daran wieder zu erinnern, als am heutigen Nationalfeiertag?

Meine Damen und Herren, an Tagen wie heute darf man sich ja was wünschen. Ich wünsche mir, dass wir alles dafür tun, dass das Gemeinschaftsgefühl aller Menschen in diesem Land weiter befördert wird. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit und der respektvolle Umgang miteinander ist die Grundlage des österreichischen Erfolgsmodells. Und ich erwarte, dass wir das nicht aus den Augen verlieren. Schaffen wir die nötigen Freiräume für eigenständiges, kritisches Denken, fördern wir mündige, selbständige und mitfühlende Bürgerinnen und Bürger. Ich wünsche mir, dass Sie, meine Damen und Herren, sich daran erinnern, dass das Österreichische ein Teil von uns allen ist.

Österreichisch zu sein bedeutet, das Gemeinsame vor das Trennende zu stellen. Die Lösung zu suchen und nicht den Streit. Verstand und Herz zu haben. Selbstbewusst und einfühlsam zu sein. Die Realität klar zu sehen und optimistisch zu sein. Zu niemandem aufzublicken und auf niemanden herabzublicken. Den Zweifel zwar zuzulassen, aber niemals siegen zu lassen. Die Zukunft nicht geschehen zu lassen, sondern positiv und zuversichtlich zu gestalten.

Dass wir das gemeinsam schaffen können, daran glaube ich fest. Diese Zuversicht wünsche ich uns allen zu unserem Nationalfeiertag. Und was wünschen Sie sich für unsere Zukunft?

Für heute wünsche ich Ihnen jedenfalls einen Guten Abend. Ihr Alexander Van der Bellen. (Wienerzeitung)

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