Die Wiener türkisch-israelitische Gemeinde und der “Türkische Tempel” Zerstört: 10.11.1938

Am 16. November 1885, bei den Feierlichkeiten zur Grundsteinlegung einer neuen Synagoge in Wien 2., Zirkusgasse 22, wurden die geladenen Gäste vom Vorsitzenden der Wiener sefardischen Juden1, Marcos Russo, mit folgenden Worten begrüßt: „Während der Regentschaft seiner Majestät Franz-Josef als Kaiser von Österreich und seiner Majestät Abdülhamid II. als Sultan des Osmanischen Reiches, und der Dienstzeit von Sadullah Pascha als dem Botschafter des Osmanischen Reiches in Wien und Marcos Russo als dem Vorsitzenden der türkisch-israelitischen Gemeinde wurde mit dem Bau dieses Gebäudes angefangen, um die religiösen Bedürfnisse der sefardischen Juden zu befriedigen.“

Während der offiziellen Eröffnungszeremonie der Synagoge, deren Tor von nebeneinander gehissten  österreichischen und osmanischen Fahnen geschmückt war,  am 17. September 1887 um 19 Uhr, folgten auf sefardisch-spanisch Gebete das Anoten-Gebet2 für Franz-Josef und Abdülhamid II. und die Nationalhymnen der beiden Länder. Diese Synagoge, in deren Mittelhalle die lebensgroßen Portraits beider Herrscher hängen, wurde durch die Schönheit ihrer unverfälscht modernisierten traditionellen östlich-spanischen Musik und die ausgezeichneten Gottesdienste auch unter den Aschkenasim3 beliebt. Nach der Gründung der Türkischen Republik wurden die Herrscherportraits entfernt und durch große Spiegel ersetzt.

In dieser Synagoge, die vom Architekten Ritter von Weidenfeld nach dem Vorbild des Alhambra-Palastes in Granada im Maghreb-Stil erbaut wurde, und die 314 Sitzplätze für Männer (bei Bedarf bis 594 ausbaubar), 100 Sitzplätze für Frauen und etwa 500 Stehplätze bietet, wurde jedes Jahr der Geburtstag von Abdülhamid II. mit einer besonderen Zeremonie gefeiert. Die österreichische Regierung wurde von einem leitenden Beamten des Außenministeriums und einem hochrangigen General des Verteidigungsministeriums vertreten; der osmanische Botschafter und das Botschaftspersonal nahmen in Galauniformen an der sog. Sultanfeier teil. Während des Ersten Weltkrieges wehten nach wie vor österreichische und osmanische Fahnen zu jedem feierlichen Anlass nebeneinander am Tor der Synagoge, da beide Länder im Krieg auf der gleichen Seite kämpften.

In Folge der neuen nationalistischen Bewegung um 1925 fingen die Sefarden an, Wien zu verlassen. Die letzte prunkvolle Zeremonie in der Synagoge, an die man sich erinnert, war die Gedenkfeier zum 800. Geburtstag des großen Denkers Maimonides. In der Kristallnacht4 vom 9. auf den 10. November 1938 teilte die Wiener sefardische Synagoge das Schicksal aller anderen deutschen und österreichischen Synagogen: Sie wurde von den Nazis zerstört und in Brand gesteckt. Woher kam nun dieses Interesse an den Osmanen, deren Sultan, Fahne und Nationalhymne, in Wien, in der Stadt, die die Osmanen zwar unter Süleyman dem Prächtigen (1529) und mit Kara Mustafa Pascha (1683) zweimal belagert, aber nie regiert, und vor deren Toren sie kehrt gemacht hatten? Gehen wir jetzt zu den Anfängen unserer Geschichte zurück, in das Spanien des 18. Jahrhunderts, wo noch die Inquisition herrschte.  Laut Überlieferung wird zu der Zeit in Madrid ein Junge namens Mosche Lopez Pereira seiner Familie weggenommen, auf den Namen Diego dÂ?Aguilar getauft und als Priester erzogen. Diego macht schnelle Fortschritte in seiner Erziehung, wird zum leidenschaftlichen Befürworter der Inquisition und wird sogar zum Bischof ernannt. Mosche Lopez‘ Mutter und Schwester sind Maranos5 und üben ihr Judentum heimlich aus. Seine Schwester wird denunziert, festgenommen und zur Verbrennung am Scheiterhaufen (Autodafé) verurteilt. Am Tag vor der Vollstreckung des Urteils besucht die traurige und hoffnungslose Mutter den Bischof Diego de Aguilar in seinem Palast und fleht um die Begnadigung ihrer Tochter, doch der Bischof lehnt diese Bitte ab. Die verzweifelte Mutter erzählt daraufhin die Wahrheit, erklärt ihm, dass sie seine Mutter und die Verurteilte seine Schwester sind, er in Wirklichkeit Mosche Lopez heißt. Dieser Name erweckt viele Kindheitserinnerungen beim jungen Bischof. Er fängt zu weinen an, läuft aus seinem Palast hinaus, aber er kommt aber zu spät: Seine Schwester ist auf dem Scheiterhaufen auf schreckliche Art und Weise gestorben. Diego, oder Mosche, zieht sein Bischofsgewand aus und wirft es weg. In diesem Land kann er nicht mehr bleiben und flieht nach Österreich, das von Maria Theresia regiert wird. Einst besuchte die Königin, damals noch Erzherzogin, mit ihrem Vater Karl VI. Madrid und schenkte dem Bischof als Dank eine Goldkette nach einem Empfang zu ihren Ehren. Die Kaiserin gewährt Mosche und einigen anderen Juden, die mit ihm fliehen konnten, Asyl und erlaubt ihnen, in Österreich zu bleiben und ihre Religion frei auszuüben. Diese Darstellung basiert auf einer Erzählung von Graf von Hoyos, die von Dr. Angel Pulido Fernandez und Rabbi Dr. Manfred Papo6 überliefert wurde und unterscheidet sich von der Darstellung in Encyclopedia Judaica und in den geschichtlichen Untersuchungen. Laut Encyclopedia Judaica kommt Mosche Lopez Pereira im Jahre 1699 als Sohn eines Marano-Bankiers in Portugal auf die Welt. Der Vater ist im Besitz des portugiesischen Tabak-Monopols. Angesichts der Schwierigkeiten, als Marano in Portugal zu leben, immigriert Diego 1722 zuerst nach London und dann nach Wien. Nachdem er sich durch wessen Hilfe auch immer in Wien niedergelassen hat, tritt er aus der Kirche aus, kehrt zum Judentum zurück und nimmt wieder seinen ursprünglichen Namen Mosche (Moses) Lopez Pereira an.

TÜRKISCH-JÜDISCHER TEMPEL, Zirkusgasse 22, 1020 Wien

Mosche Lopez besitzt das österreichische Tabakmonopol zwischen den Jahren 1723-1739 für 7 Millionen Gulden im Jahr, organisiert das Unternehmen neu und bekommt 1726 den Titel eines Barons verliehen. In dieser Zeit beteiligt er sich an den Baukosten des Schlosses Schönbrunn mit 300.000 Gulden. Mit dem Titel „Hofjude“ zum privaten Berater des Palastes ernannt, verwendet er seinen Einfluss für den Schutz der Leben und Rechte seiner Glaubensgenossen in Österreich und anderen Ländern, so z.B. 1742 in Mähren, 1744 in Prag, 1752 in Mantua und Belgrad. Auf einer silbernen Thora-Krone in der Wiener Synagoge (Sifrei-Torah-Pergamentrollen)7 befindet sich der hebräische Eintrag „Mosche Lopez Pereira-5498“ (=1737-1738) und jedes Jahr am Jom Kippur-Fest8 wird für ihn als den Gründer der Gemeinde gebetet, bis die Synagoge zerstört wird.

In dieser Zeit siedeln sich andere spanisch-stämmige Familien wie Kamondo9, Nisan und Eskenazi in Wien an. Mosche Lopez, seine Frau, Samuel Oppenheimer und sein Neffe Samson Wertheimer organisieren die sefardischen Juden in der Stadt und gründen 1736 die erste sefardische Gemeinde in Wien. Die sefardischen Juden, mehrheitlich osmanischen Ursprungs, genießen die Klausel des Passarowitzer Vertrages (21. Juli 1718), die den osmanischen Bürgern Niederlassungs- und Handelsfreiheit garantieren und leben in Frieden unter meist besseren Umständen als die österreichischen Juden. Die Gottesdienste werden im Haus Nr. 307 innerhalb des Rings abgehalten, das als Synagoge benutzt wird. Leider dauert dieser friedliche Zustand nicht lange. Mosche Lopez Pereira erfährt 1742, dass das Kaiserreich unter dem Einfluss der fanatischen Kirche die Juden deportieren will. Pereira berichtet von der Lage über seine im Osmanischen Reich ansässigen Glaubensgenossen, speziell durch die Vermittlung des Obergeldwechslers Yuda Baruh, an den Sultan Mahmud I. und es gelingt ihm, die Unterstützung des Sultans zu bekommen. Die Königin Maria Theresia kann es sich nicht erlauben, das durch einen Sonderbotschafter übermittelte Memorandum des Sultans abzulehnen und zieht ihren Erlass zurück. Um 1750 leben mehrere sefardische Familien in Wien, die aus beruflichen Gründen aus der Türkei gekommen und sich hier niedergelassen haben.

TÜRKISCH-JÜDISCHER TEMPEL, Blick auf den Toraschrein

Diese Juden, die ihre osmanische Zugehörigkeit immer beibehalten hatten und unter dem Schutz des Sultans stehen, leben mehrheitlich in Wien, zum Teil auch in Temesvar. Sie werden türkische Juden genannt. Dieser Begriff wurde von österreichischen Ämtern übernommen, registriert und in offiziellen Dokumenten verwendet. Im Erlass vom 17. Juni 1778, der aus 14 Artikeln besteht und die Statuten der sefardischen Gemeinschaft bestimmt, ist von der „türkisch-israelitischen Gemeinde“ die Rede.  Die Vorsitzenden sind in dieser Zeit Salamon Kapon und Israel B. Haim.  Bis 1840 errichten die türkischen Juden ihre Gebetsräume in gemieteten Häusern. Nach dem unaufgeklärten Brand der Synagoge in der Oberen Donaustrasse 1824 wird das Haus Nr. 321 in der Leopoldstrasse gemietet. Die Synagoge wird 1848 erweitert und 1868 vollkommen neu erbaut und dennoch kann sie den religiösen Bedürfnissen der immer größer werdenden osmanisch-jüdischen Bevölkerung der Stadt  nicht genügen. Nach der Wahl von Marcos Russo zum Vorsitzenden der türkisch-israelitischen Gemeinde 1881 und seiner Wiederwahl 1885 wird der Abriss der alten Synagoge und der Neubau eines größeren Gebetshauses einstimmig angenommen.

Dies also ist die kurze Zusammenfassung der interessanten Geschichte der türkischen Juden in Wien und der Synagoge, deren Bau am 16. November 1885 mit der Grundsteinlegung begann. Einige wenige religions-rituelle Objekte der 1887 eröffneten und 1938 vernichteten Synagoge sind heute im Jüdischen Museum in Wien zu sehen, der Parochet10 wird im jüdischen im Museum in Jerusalem ausgestellt.

Nur wenige Juden, die während der Nazi-Herrschaft festgenommen und nach Dachau transportiert wurden, blieben am Leben. Die wertvollsten Überbleibsel aus der prunkvollen Ära der Wiener türkisch-jüdischen Sefardim sind die Grabsteine im sefardischen Teil des Wiener Zentralfriedhofs. Die heute in Wien lebenden sefardischen Juden haben ihre Wurzeln in Taschkent und Buchara und stehen in keinem Zusammenhang mit den osmanisch-türkischen sefardischen Juden.  Der große Brand von Edirne vernichtete im August 1905 in einer Nacht 13 Synagogen11.

Als Ersatz wurde mit Erlass vom 6. Jänner 1906 dem Bau der Grossen Synagoge im Gebiet der ehemaligen Mayor- und Polya-Synagogen stattgegeben. Die Große Synagoge wurde vom französischen Architekten France Depre nach dem Vorbild der Wiener Synagoge erbaut und unter dem Namen Kal Kadosch Ha Gadol (Die heilige große Synagoge) im Jahre 1907 eröffnet. Leider leben in Edirne keine Juden mehr und die Synagoge, ihrem Schicksal überlassen,  verfällt von Tag zu Tag trotz aller 1979 begonnenen zeitweiligen Rettungsversuche des Kultusministeriums, der Abgeordneten der Provinz, der Universität von Trakya und des Oberrabbinats der Türkei.

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