Neues Wiener Journal, 29.10.1909, Seite 1: „Die Sympathie für die Türkei hat in Österreich Tradition“

İsmail Tosun, der Autor des Buches „Rot-Weiß-Rot“, das gemeinsam von unserem Wiener „Neue Welt Verlag“ und der „NEUE HEIMAT ZEITUNG (Yeni Vatan Gazetesi)“ herausgegeben wurde, hat nun einen wichtigen Artikel mit dem Titel „Die Sympathie für die Türkei hat in Österreich eine alte Tradition“ aus der österreichischen Zeitung aus dem Jahr 1909 zusammengefasst, den wir in türkischer Sprache veröffentlicht und nun für Sie ins Deutsche übersetzt haben.

von İsmail Tosun Saral [1]

Am 27. Oktober 1909 begannen alle österreichischen Zeitungen in bemerkenswerter Weise über die Ankunft der Türken in Wien und ihre Aktivitäten in Wien zu berichten. Das war kein Zufall. Eine davon ist die auf Seite 1 des Neuen Wiener Journals vom 29.10.1909 in deutscher Sprache veröffentlichte Nachrichtenanalyse mit dem Titel „Sympathie für die Türkei in Österreich ist Tradition“. Es ist notwendig, sie 2023 zu kennen.

Den geschätzten Lesern der Yeni Vatan Newspaper /Neue Heimat Zeitung präsentiere ich die folgenden Nachrichten in türkischer Sprache. Doch bevor ich dazu komme, möchte ich die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass wir die Geschichte nicht einseitig, sondern multilateral betrachten sollten, indem ich die türkischen Übersetzungen anderer kurzer deutscher Nachrichten aus der österreichischen Presse jener Tage vorstelle.

Die Zeit, 31.10.1909: „Die Türken kommen nach Wien

„Die Türken kommen“ war vor Jahrhunderten ein Schreckensruf der Wiener Bevölkerung. Ein einziger Schreckensschrei war das Signal zur Flucht. Danach wurde der Türke für viele Jahrhunderte in Wien nicht mehr gesehen. Hin und wieder tauchte ein orientalischer Händler in den engen und verwinkelten Gassen der Wiener Vorstädte auf, und dieser seltene Anblick beflügelte die Phantasie der Wiener Jugend mit orientalischen Abenteuerträumen. Der gelegentliche Türke war entweder ein harmloser Teppichhändler aus Edirne, ein edler Herr oder ein weiser Scheich aus Bagdad. Die Wiener konnten sich nicht vorstellen, dass es einen gewöhnlichen Türken, Herrn Falanca aus Thessaloniki, geben könnte. Später, als wir Bosnien eroberten und uns die ersten bosnischen Hausierer ihre Waren, Messer und andere schöne einheimische Artefakte zum Kauf anboten, gewöhnten wir uns langsam wieder an den Fez auf unseren Straßen und an die Türken in Wien. Aber es waren unsere Türken, und wir hörten bald auf, sie zu überschätzen und zu fürchten. Und ein paar Hundert von ihnen sind jetzt als Besucher aus der Türkei bei uns in Wien. Wie märchenhaft, nicht wahr? Diese türkischen Revolutionäre, Sultanatsumstürzler und Rebellen werden in Österreich mit offenen Armen empfangen. Unsere Minister begrüßen sie, unsere Offiziere schütteln ihnen die Hand, die Wiener applaudieren ihnen. “ [1]

Die Ankunft der Türken in Wien und ihre Aktivitäten in Wien wurden in allen österreichischen Zeitungen unter dem Titel „Die Türken in Wien“ für die Zeitung „Die Zeit“ am 31.10.1909 in der oben beschriebenen Weise beschrieben und als Wiederaufnahme der türkisch-österreichischen Freundschaftsbeziehungen akzeptiert.

Innsbrucker Nachrichten, 28.10.1909, S.6, „Türken in Wien“.

Am 27. Oktober 1909 traf eine 250-köpfige türkische Erkundungsdelegation, bestehend aus Parlamentariern, Offizieren, Geschäftsleuten und Kaufleuten, in Wien ein. Der Empfang am Nordbahnhof war außergewöhnlich und herzlich. Auch zahlreiche österreichische Offiziere waren anwesend. Türkische und österreichische Offiziere umarmten und küssten sich, saßen nebeneinander in den Waggons und fuhren in die Stadt. Entlang der Straße vom Nordbahnhof zur Praterstraße hatten sich etwa 10.000 Menschen versammelt, um die Türken zu sehen. Zur Begrüßung durch die Wienerinnen und Wiener schwenkten die türkischen Gäste, die in offenen Wagen reisten, schwarz-gelbe Seidenfahnen und riefen „Hoch Österreich! Auch in der Wiener Wirtschaftskammer gab es einen ungewöhnlich bunten Empfang[2].

Pilsner Tagblatt, 31.10.1909, Seite 10, „Die Türken in Wien“

Während die zivilen Mitglieder der türkischen Erkundungsmission am 30. Oktober 1919 verschiedene Industriebetriebe und Geschäfte in Wien besichtigten, wurden die Offiziere in die Simmeringer Heide geführt, um eine Parade verschiedener Einheiten zu beobachten. Nach dem Besuch dieses Manövers besichtigten die Offiziere die Kaserne und die Konservenfabrik in Bruck an der Leitha. [3]

Die Arbeit, 7.11.1909, S.1, Türkisches Staats- und Wirtschaftsleben

Die prachtvollen Empfänge zu Ehren der türkischen Gäste in Wien gingen zu Ende, die Osmanen verließen Wien und nahmen zweifellos die besten Eindrücke mit. Wir können mit Sicherheit sagen, dass diese ehrenwerten Männer, wenn sie in ihre Heimat zurückkehrten, einen wesentlichen Beitrag zur Beilegung der bestehenden Streitigkeiten zwischen den beiden Staaten und zur Entwicklung der Handelsbeziehungen leisten würden. [7]

Neues Wiener Journal, 29.10.1909, Seite 1

Im Zusammenhang mit diesem Besuch erschienen in verschiedenen österreichischen Zeitungen sehr positive Artikel über die türkisch-österreichische Freundschaft. Im Neuen Wiener Journal vom 29.10.1909 erschien unter dem Titel „Willkommen bei unseren Freunden“ ein Artikel mit folgendem Inhalt: „Die Sympathie für die Türkei hat in Österreich Tradition.

„Türkischer Besuch in Wien“

Die junge Türkei[5], die wie ein neu inthronisierter Monarch zum ersten Mal befreundete Staaten besucht, ist nun auch in Wien angekommen. Wien, die Stadt des Kaiserthrons, empfing die 250-köpfige Delegation mit Beifall, der in den offiziellen Reden widerhallte, und spontanen Liebesbekundungen der Bevölkerung. Die Sympathie für die Türkei hat in Österreich Tradition. Die Monarchie war sich ihrer geographischen Rolle bewusst und über Jahrhunderte Durchgangsstation für die geistigen und wirtschaftlichen Schätze des Westens in das Nachbarreich. Österreich war der engste Lieferant der Türkei, und die Bemühungen anderer Konkurrenten konnten diese Sonderstellung nicht schmälern.

Diese Position beruhte auf der Integrationsfähigkeit Österreichs. Österreich hat aber nicht nur gegeben, sondern auch empfangen. In der Wiener Kulturlandschaft ist es nicht schwer zu finden, was aus dem Land des Halbmondes zu uns gekommen ist. War Wien nicht die Stadt, in der das türkische Kaffeehaus Alla Turca erstmals zum Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens in Europa wurde?

Ist Wien nicht die einzige Stadt, in der diese Tradition bis heute fortgeführt wird? Seit den Eroberungszügen der Sultane ist die Türkei unserem Nationalgefühl und unseren nationalen Interessen nahe. Später wurden osmanische Prinzen, Offiziere und Studenten in unseren Schulen ausgebildet, und als unsere Ärzte und Anwälte in der Türkei ihren Beruf ausüben wollten, waren sie willkommen. Dann kam die jungtürkische Revolution. Die Gefühle der Freundschaft und des Respekts, die einzelnen entgegengebracht worden waren, begannen sich nun auf das ganze Volk auszudehnen.

Die starken Gefühle in diesem Österreicher haben meine Erwartungen übertroffen. Diese Qualitäten, in denen es starke Gefühle gab, kamen plötzlich auf eine sehr gute, sehr starke Weise wieder zum Vorschein. So wie es jetzt den Willen und die Disziplin gibt, die alten guten Beziehungen in allen Bereichen aufrechtzuerhalten, so ist es auch notwendig, dass der politischen Wiederbelebung eine Veränderung im gesamten wirtschaftlichen und öffentlichen Leben folgt. Dann wird sie sicherlich unsere aufrichtige Bewunderung finden. Die Gefühle gegenüber der Türkei in Österreich beruhen auf Tradition, persönlicher Sympathie und Achtung vor dem Volk als Ganzem. Kein Ereignis, auch nicht der unglückliche Boykott [6], kann diese Gefühle und die Reaktionen darauf unterdrücken. Denn beide Staaten haben immer gewusst, dass es notwendig ist, wieder Freunde zu werden, weil es eine Frage der Notwendigkeit und der Tradition ist.

Eine Woche lang werden türkische Parlamentarier, Offiziere und Geschäftsleute bei uns zu Gast sein, unsere besten Einrichtungen kennen lernen und neue Freundschaften schließen. Aber die Freundschaft zwischen den Völkern wird nicht mehr durch die Entsendung von Delegationen der Monarchen gefestigt, sondern durch die Öffnung der Wege für die Entwicklung des Handels und des industriellen Austausches. Ja, eine solche Völkerfreundschaft sollte auch den Handel fördern. Je mehr die Kaufleute und Unternehmer der beiden Staaten gewinnen, desto mehr gewinnen beide Staaten, und je mehr sie gewinnen, desto besser können sie arbeiten. Dieser Gedanke kam auch beim Besuch der türkischen Delegation zum Ausdruck: Die Begrüßung der Gäste durch die Handelskammer und die Ansprache des Handelsministers als Vertreter der Regierung zeugten davon.

Das beste Ergebnis dieser Festwoche sollte daher sein, dass die Handelsbeziehungen mit der Türkei die notwendigen Impulse erhalten. Das von vielen kompetenten Organisationen seit langem vorbereitete Handelsabkommen mit der Türkei muss so schnell wie möglich in Kraft treten. Ohne den Handelsvertrag würden die Bemühungen um eine gute Freundschaft nicht nur Worte bleiben, sondern von anderen, eifrigeren und voreiligeren Bewerbern übertönt werden.

Heute kann niemand mehr den Türken schubsen, denn er ist nicht mehr der Kranke. Aber er ist ein schlafender und schlummernder Mann, wie die Romanhelden des phantastischen Engländers Wells, dessen Reichtum und Vermögen ungenutzt herumliegen und dessen Felder, die eine reiche Ernte gebracht hätten, brach liegen. Frankreich hingegen behauptet, dass seine politischen Prinzipien die türkischen Politiker erleuchten und dass die französische Sprache den türkischen Geist beherrscht. Italien, unser aktiver Rivale überall, erscheint auch hier, England sympathisiert mit ungewöhnlicher Eile mit dem neuen türkischen Regime, Belgien, Rußland, selbst das ferne Amerika will bei der Schaffung der türkischen Industrie, bei der Wiederbelebung des türkischen Handels helfen, Geld säen und Geld ernten. Der Platz Österreichs in dieser Konkurrenz ist nicht schlecht. Alle Gründe, die den Empfang der türkischen Gäste in Wien besonders herzlich und bedeutungsvoll machen, helfen uns, im Außenhandel mit schnelleren und stärkeren Ländern zu konkurrieren. Aber um ein moderner Staat zu werden, darf man nicht vergessen, dass die Tür für Handelsabkommen geöffnet werden muss.

Ein moderner Staat entsteht nicht allein durch Emotionen! Das Handelsabkommen wird nicht das einzige, aber das nächste und bleibende Ergebnis des Türkeibesuches sein. Ein weiteres ist, dass sich unsere jungen Österreicherinnen und Österreicher dem europäischen Kleinasien zuwenden, es in ihre Reisepläne aufnehmen und sich auf ein ernsthaftes Kennenlernen vorbereiten. Denn es gibt nicht genug Österreicher in der Türkei! Es sind so wenige, dass die Niederlassungen der österreichischen Außenwirtschaft oft in anderen Ländern gegründet werden müssen. Ausstellungen im Österreichischen Handelsmuseum müssen oft gemeinsam mit Mitgliedern aus anderen Ländern organisiert werden. ….

Die Türkei hat sich den geheimnisvollen Charme des Orients bewahrt und ist in der Lage, jeden in ihren Bann zu ziehen. Es braucht nicht viel Aufwand. Es genügt, an den Universitäten eine kleine Anzahl von Türkisch-Vorbereitungskursen zu organisieren oder über die Türkei zu informieren und die Österreicherinnen und Österreicher immer wieder daran zu erinnern, dass der Weg in die Weiten des Ostens unser nächstes Ziel ist und dass er auch der fruchtbarste sein kann. Es ist das Effizienteste, was man für Österreich als Ganzes, aber auch für den Einzelnen tun kann. Der jetzige Zeitpunkt wird viele weitere Entwicklungsmöglichkeiten eröffnen. Mit dem Besuch unserer Gäste beginnt eine neue Ära in unseren Beziehungen zur Türkei. Sie darf nicht ungenützt verstreichen.

Fazit

Zusammenfassend kann man sagen, dass zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei im vergangenen Jahr eine ernsthafte Kälte, wenn nicht sogar eine gewisse Feindseligkeit geherrscht hat. Auf die Ursachen und Folgen möchte ich hier nicht näher eingehen, natürlich haben die politischen Bewegungen in Europa und die turbulenten innen- und außenpolitischen Entwicklungen in der Türkei dazu beigetragen. Die türkisch-österreichischen Beziehungen müssen aber verbessert und auf ein hohes Maß an Herzlichkeit gehoben werden. Dies liegt im Interesse beider Nationen. Zwei Nationen, die einst Grenznachbarn waren, müssen sehr gute Freunde werden. Hier habe ich den Lesern der Zeitung Yeni Vatan beispielhafte Beziehungen aus dem Jahr 1909 mit Dokumenten aus der österreichischen Presse vorgestellt. Es ist notwendig, Lehren zu ziehen und die Beziehungen zwischen den beiden Ländern auf eine gute Grundlage zu stellen, sowohl auf menschlicher als auch auf staatlicher Ebene. Dazu ist es notwendig, die Außenpolitik nicht in erster Linie für die Innenpolitik zu nutzen. Es liegt im Interesse beider Länder, gute und zivilisierte Beziehungen zu allen Ländern der Welt zu pflegen. Die Türkei und Österreich sind befreundete Länder. Wir wünschen uns, dass das so bleibt. ( von Ismail Tosun, yenivatan.at)

[1] Die Zeit, 31.10.1909, S.8, Die Türken in Wien.

[2] Innsbrucker Nachrichten, 28.10.1909, S.6, Türken in Wien.

[3] Pilsner Tagblatt, 31.10.1909, S.10, Die Türken in Wien.

[4] Neues Wiener Journal, 29.10.1909, S.1

[5] Unter Junger Türkei versteht man die am 23. Juli 1908 proklamierte Zweite Konstitutionelle Monarchie und die Jungtürken.

[6] Der Boykott gegen österreichische Importwaren, insbesondere Fezen, als Reaktion auf die österreichische Besetzung des osmanischen Territoriums Bosnien-Herzegowina am 5. Oktober 1908.

[7] Die Arbeit, 7.11.1909, S.1, Türkisches Staats- und Wirtschaftsleben.

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