Weltwoche: „Das Trauma von Trianon“

Vor genau hundert Jahren wurde die Nation Ungarn durch den Vertrag von Trianon zerfleischt. Wer Trianon nicht versteht, wird Ungarn und Viktor Orbán nie verstehen. «Nie in der Geschichte hat ein Land einen solchen Blutverlust überlebt» ... Ungarn war damals gleich gross wie Deutschland. Ungarn, wie Deutschland, verlor den Krieg und wurde 1920 schonungslos zerstört. Deutschland, der viel ärgere Aggressor, aber hat heute seine historischen Grenzen nahezu wieder. Und Merkel-Berlin erteilt heute Orbán-Budapest ständige Lektionen, wie es sich politisch gefälligst zu benehmen habe. " Österreich war gleich "schuldig"(wenn sogar nicht "schuldiger") am Ausbruch des 1. Weltkrieges, bekam aber - als Ausgleich für Süd-Tirol, ein Großteil von West-Ungarn, die jetzige Burgenland.

WELTWOCHE(Schweiz) von K.W. Zimmermann

„Am Monument in der Alkotmány-Strasse, gleich hinter dem Parlament, fräsen die Steinmetze derzeit die letzten Gravuren in den Granit. Bis zum 4. Juni muss das Monument fertig sein. Es ist ein gewaltiges Monument. Zwei gigantische Steinblöcke, beide hundert Meter lang. Im Granit sind die Namen von 13 000 Städten und Dörfern eingraviert. Es sind die Ortschaften, die vor hundert Jahren zur ungarischen Nation gehörten.

RACHE DER ALLIIERTEN.

Dann, am 4. Juni 1920, wurden 9800 der 13 000 Städte und Dörfer der ungarischen Nation entrissen und an die Nachbarländer verteilt. Am 4. Juni 1920 wurde bei Paris der Vertrag von Trianon unterzeichnet. Ungarn verlor dabei fast 70 Prozent seiner Fläche. Das Land wurde von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs erbarmungslos zerhackt.

Hundert Jahre später wird nun Ministerpräsident Viktor Orbán das Trianon-Monument hinter dem Parlament einweihen. «Nie in der Geschichte hat ein Land einen solchen Blutverlust überlebt», sagt er zum Trianon-Vertrag. In diesem Punkt geben ihm die Historiker recht. Die Zerstörung des historischen Ungarns ist in ihrer Härte tatsächlich unvergleichlich.

Bis heute schneidet das Trauma von Trianon, wie sie es nennen, tief in die ungarische Seele ein. Wer Trianon nicht versteht, wird Viktor Orbán und Ungarn nicht verstehen können. Er wird ihr Verhalten in der Flüchtlingskrise nicht verstehen und auch nicht, warum nun in Mitteleuropa rund um die Visegrád-Staaten ein neues Machtzentrum in der EU entsteht.

Mit dem Vertrag von Trianon schrumpfte das Staatsgebiet des Königreichs Ungarn im Jahr 1920 von 325 000 auf 93 000 Quadratkilometer. Es war die Rache der Alliierten aus Frankreich, Italien und Grossbritannien am Kriegsverlierer Österreich-Ungarn, das im Ersten Weltkrieg an der Seite von Deutschland gestanden war. Ungarns vormaliges Territorium wurde in der Folge aufgeteilt auf die heutigen Länder Slowakei, Tschechien, Österreich, Italien, Slowenien, Kroatien, Serbien, Bosnien-Herzegowina, Ukraine, Polen, Montenegro und Rumänien.

Die Beute Ungarn wurde bereits verteilt, lange bevor der Erste Weltkrieg vorüber war. Im Geheimvertrag von London von 1915 beispielsweise sicherten die Alliierten dem vorher neutralen Italien Teile von Ungarn zu, falls es auf ihre Seite schwenke. Italien trat darum in den Krieg ein. Als Belohnung bekam es später die vormals ungarische Region von Rijeka und dazu von Österreich Südtirol und das Trentino.
Das noch bessere Beispiel für das Trauma von Trianon ist Transsilvanien, eine Region, doppelt so gross wie die Schweiz. Schon 1916, mitten im Krieg, versprachen die Alliierten dem Königreich Rumänien dieses ungarische Schmuckstück, falls es an ihrer Seite in den Krieg eintrete. Rumänien machte darauf sofort mobil. Gegen Österreich-Ungarn erlitt die rumänische Armee dann zwar eine vernichtende Niederlage. Dennoch wurde Rumänien im Vertrag von Trianon mit Transsilvanien belohnt.

SOLIDARITAT MIT DEN HABSBURGERN

In Transsilvanien gibt es heute Hunderte von Städtchen und Dörfern, die ungarisch geblieben sind. Rumänisch reden nur die Polizisten, die von Bukarest delegiert wurden. Insgesamt leben als Folge von Trianon noch rund drei Millionen Ungarn in angrenzenden Ländern. Sie haben Anspruch auf den ungarischen Pass, und Orbán unterstützt sie mit Abermillionen für Vereine und Kultur.

Was die Ungarn dabei bis heute nicht verstehen: Die Rache der Alliierten am zweiten Kriegsverlierer Deutschland fiel ungleich milder aus. Im Vergleich zum Vertrag von Trianon war der Vertrag von Versailles von 1919 ein Zuckerschlecken. Deutschland verlor dabei nicht über zwei Drittel seines Gebiets wie Ungarn, sondern gerade mal 13 Prozent, nur Westpreussen und das Elsass. Dennoch führte Versailles dann ziemlich schnurstracks in den Zweiten Weltkrieg.

Die Historiker sind sich heute einig. Man kann Ungarn nicht für den Ausbruch des Ersten Weltkriegs verantwortlich machen.

In Sarajevo wurde 1914 Erzherzog Franz Ferdinand von Österreich vom serbischen Nationalisten Gavrilo Princip ermordet. Österreich-Ungarn erklärte darauf Serbien den Krieg, nachdem es sich vom Deutschen Reich zuvor militärische Unterstützung hatte zusichern lassen. Innert weniger Tage eskalierte die lokale Affäre zum Weltenbrand, weil nun auch Serbiens Schutzmacht Russland und dessen Verbündeter Frankreich losschlugen.
Deutschland sehnte sich nach Krieg, Russland wollte Krieg, Frankreich wünschte Krieg, Österreich suchte Krieg. Ungarn versuchte erst, sich herauszuhalten. Budapest musste aber schliesslich aus Solidarität innerhalb der Doppelmonarchie mit den Habsburgern aus Wien mitmarschieren.

Ungarn war damals gleich gross wie Deutschland. Ungarn, wie Deutschland, verlor den Krieg und wurde 1920 schonungslos zerstört. Deutschland, der viel ärgere Aggressor, aber hat heute seine historischen Grenzen nahezu wieder. Und Merkel-Berlin erteilt heute Orbán-Budapest ständige Lektionen, wie es sich politisch gefälligst zu benehmen habe.

«SCHANDE EUROPAS»

Ungarn war 1920 leicht zu filetieren. Das Land war ein heterogener Flickenteppich ohne ethnische Einheit. Nur etwa die Hälfte der Ungarn sprach Ungarisch. Die Siegermächte zerstückelten darum Österreich-Ungarn in Trianon beim Nachmittagstee und gründeten zudem zwei künstliche Nachfolgestaaten, die Tschechoslowakei und Jugoslawien. Sie hofften, damit die Bedrohung durch das neuerdings bolschewistische Russland besser bremsen zu können als mit einem Königreich Ungarn, das zwar eine lange Geschichte, aber weniger inneren Zusammenhalt hatte.

In der Flüchtlingskrise von 2015 wurde dieses historische Erbe deutlich spürbar. Ungarn reagierte mit einer Art Trianon-Trotzreflex. Viktor Orbán widersetzte sich der Grenzöffnung für Migranten, die durch die Willkommenskultur in der EU massiv gefördert wurde, und zog seinen Zaun hoch. Orbán musste sich darum als «Schande Europas» bezeichnen lassen.

In Ungarn wuchs seine Popularität. Von Westeuropa, von dort, wo unsere Zerstörer von 1920 sitzen, so der Tenor im Land, müssen wir uns gar nichts mehr diktieren lassen. Ministerpräsident Viktor Orbán wird am 4. Juni bei der Einweihung des Trianon Monuments dennoch keine allzu nationalistische Rede halten. Er wird nicht zur Wiederherstellung des früheren Grossungarn aufrufen. Revanchismus ist nicht sein Ding. Denn Orbán hat zwei Hüte auf. Er ist derzeit der erfolgreichste mitteleuropäische Innenpolitiker und zugleich der ambitionierteste Aussenpolitiker der Region. Es ist schwierig, beides zu vereinen.

Als Innenpolitiker setzt Orbán auf nationalistische Töne. Dazu braucht er äussere Feinde. Der übelste Feind sitzt in Brüssel, wo aus Orbáns Sicht heimatlose Bürokraten auf die Zerstörung von Christentum, Familie und Vaterland in Europa hinarbeiten. Ergänzt werden sie durch den in Budapest geborenen amerikanischen Milliardär George Soros, der mit seinen finanzstarken Stiftungen Orbáns Schreckbild der «offenen Gesellschaft» durchzusetzen versucht. Der Vorteil dabei ist: Brüssel wie Soros sind weit weg.

GEGNER IN BRÜSSEL, PARIS UND BERLIN

In der Nähe ist es anders. Verbale Angriffe auf Nachbarländer und deren ungarische Trianon-Beute, die naheliegendste Form von Nationalismus, lässt Orbán in aller Regel bleiben. Viel wichtiger ist ihm die freundschaftliche Zusammenarbeit in der Region. Selbst zu Rumänien hat sich das Verhältnis entspannt, seit dort Namensvetter Ludovic Orban Ministerpräsident ist, der Sohn eines ethnischen Ungarn. Auch mit Serbiens Präsident Aleksandar Vucic versteht er sich gut.

Orbán ist zudem der aktivste Ministerpräsident der Visegrád-Gruppe, in der sich die EU-Länder Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn zusammengeschlossen haben. Er hat sie als Gegengewicht zur deutsch-französischen Dominanz in Brüssel etabliert. So blockierten die Dissidenten aus Mitteleuropa erfolgreich die geplante Umverteilung von Flüchtlingen und wehrten sich ebenso effizient gegen Beschneidungen nationaler Souveränität, gemäss denen Brüssel ständig die Gesetze der Mitgliedstaaten zu kontrollieren habe. EU-Verfahren gegen Polen oder Ungarn sind oft hoffnungslos, weil die vier von Visegrád sich mit ihrem Veto gegenseitig schützen.

Orbán weiss natürlich genau, dass seine Gegner in Brüssel, Paris und Berlin schon lange darauf warten, den Wortführer der internen EU-Abweichler zum Schweigen zu bringen. Darum wäre es für ihn tödlich, wenn er sich in seiner Region isolieren würde. Er setzt darum auf nachbarschaftliche Kooperation.
Das ist die andere Seite von Trianon. Die Nachbarländer Ungarns haben sich seinerzeit über zwei Drittel des ungarischen Staatsgebiets einverleibt. Es war die grösste Katastrophe der ungarischen Geschichte, eine Demütigung, die bis heute nachbebt. Aber jede politische Katastrophe wird eingeholt!“( Weltwoche,von K.W. Zimmermann, Schweiz)

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