„China Spezialist“ Kurt Seinitz : „China ist die erste digitale Diktatur der Welt“

Birol Kilic im Gespräch mit Kurtz Seinitz (Kronen Zeitung), einem der versiertesten und erfahrensten Journalisten im deutschsprachigen Raum, über die aktuellen Entwicklungen in China und dessen Auswirkungen auf Europa. 

von Birol Kilic, Wien

Ich muss mir im Jänner 2020 in Istanbul eine Vortragsreihe über China anhören und brauche dazu Vorwissen. Deswegen habe ich Herrn Kurt Seinitz zu unserem „Kant Mittagstisch“ bei der Neue Heimat Zeitung ( Yeni Vatan Gazetesi) eingeladen, um mit ihm nicht nur über die Türkei und den Nahen Osten zu reden, sondern auch intensiv über China. Heutzutage ist China in aller Munde, sogar beim letzten NATO-Treffen im Dezember in London hat man das Land als als Bedrohung deklariert.  „Peking verzeichne nach den USA die höchsten Militärausgaben, verfüge über neue Waffen, darunter auch nukleare, und breite sich nicht nur auf militärischem Weg weiter aus.Als Problembereich bezeichneten die Nato-Mitglieder den MobilfunkStandard 5G, bei dem das chinesische Unternehmen Huawei als führend gilt. Die von den USA gewünschte Selbstverpflichtung für Nato-Staaten, beim 5G-Aufbau ganz auf Huawei-Produkte zu verzichten, stand allerdings nicht in der Abschlusserklärung.“ so die Presseberichte (4.12.2019) aus London.

China beschäftigt mich in der letzten Zeit sehr viel, weil ich bei Themen zum Nahen Osten, zum Kaspischen Meer am Balkan  oder in der Türkei, wo ich immer in letzten Monaten war, stets mit China konfrontiert wurde.

„Vorsicht China!“

Auch letzte Woche beim 13. Europäischen Mediengipfel in Lech am Arlberg habe ich sehr viel über China gehört. Ich habe mich gefragt, mit wem ich über China reden und ein Interview, in erster Linie für mich aber natürlich auch für unsere Leser*innen, halten kann. Da ist mir nur der liebe Herr Kurt Seinitz mit seinen präzisen und kritischen Meinungen eingefallen, der nicht nur Buchautor, sondern auch Leiter des Ressorts für internationale Politik bei der Kronen Zeitung ist. Er hat in seinen letzten 50 Jahren Wissen aus der ganzen Welt gesammelt. Seinitz hat tatsächlich auch einiges über China geschrieben, ich habe beispielsweise bereits 2006 das Buch mit dem Titel „Vorsicht China!“ bei seiner Buchvorstellung gekauft und gelesen. Das Werk war mehrere Wochen in den österreichischen Sachbuch-Bestsellerlisten.

 Ali Baba Chef Jack Ma als einfacher Übersetzer

Der berühmte Jack Ma, Chef des Online Handelsriesen Ali Baba war, bevor er in dieses Geschäft eingestiegen ist, auch bei Kurt Seinitz als Übersetzer( Englischlehrer) in China tätig. Deswegen freut sich Jack Ma auf eine freudige Wiederbegegnung, wenn Seinitz in China ist. Dieser hat also vor Ort genügend zu erzählen.

Ich kenne den Leiter des Ressorts für internationale Politik bei der Kronen Zeitung seit über 20 Jahren und habe ihn bereits mehrmals zu Veranstaltungen eingeladen, bei welchen er die Menschen in der Türkei und in Österreich analysieren konnte. Beispielsweise waren wir 2009 in Istanbul gemeinsam live bei einer Diskussionssendung im Fernsehen. Wir haben sowohl dort als auch in Wien viele Veranstaltungen gemeinsam besucht. Also wissen wir, obwohl wir zu vielen Themen durchwegs verschiedenen Meinungen haben, dass wir uns bei vielen Themen auch gegenseitig als Journalisten Beratung und Meinung holen/geben können.

Ich habe Herrn Seinitz zu einem Gespräch über die Thematik China, insbesondere über dessen aktuelle Entwicklungen und die Auswirkungen auf Europa zu unserem „Kant Mittagstisch“ in unserem Verlag  eingeladen und viele Fragen gestellt, denn nicht immer bekommt man Herrn Seinitz so konzentriert und dankenswert offen.

Birol Kilic: Vielen Dank für den Besuch Herr Seinitz, das ist eine große Ehre für uns. Was erwartet uns durch die Entwicklungen in China?

Kurt Seinitz: Sehr gerne. Ich danke Ihnen für die Einladung. Ich beginne mit einem Zitat: „Mao Zedong hat China befreit, Deng Xiaoping hat China zu (bescheidenem) Wohlstand geführt und Xi Jinping wird China stark machen“. Diese Darstellung einer chinesischen Dreifaltigkeit bekam die österreichische Staatsbesuchsdelegation zu hören, als sie im Frühjahr 2018 das Reich der Mitte besuchte. Staats-, Partei- und Militär-Chef Xi Jinping wird also schon jetzt als ein besonderer Repräsentant der roten Kaiser-Dynastie hervorgehoben. Auf dem letzten Parteikongress war durchaus im konfuzianischen Sinne die Amtszeitbeschränkung von zweimal 5 Jahren aufgehoben worden, welche Deng Xiao-ping eher im westlichen Sinne eingeführt hatte, um die Wiederholung der Auswüchse der Mao-Ära zu verhindern. Jeder der Drei steht also ganz für sich für einen Geschichtsabschnitt des jüngeren Chinas.

Kilic: Können Sie bitte diese Geschichtsabschnitte etwas näher beschreiben?

Seinitz: Das ist eigentlich ganz einfach. Die Ära des Xi Jinping ist gekennzeichnet durch die Überzeugung, dass China einen Entwicklungsstand erreicht hat, bei dem auch die Stärke des Landes zur Geltung gebracht werden kann – ganz im Gegensatz zum Gebot des Reformpatriarchen Deng Xiaoping, wonach China in seinem Entwicklungsprozess möglichst wenig auffallen sollte, um kein Misstrauen zu erwecken.

Kilic: Was können Sie über die Notwendigkeiten innerer Korrekturmaßnahmen in China erzählen?

Seinitz: Es besteht die Notwendigkeit innerer Korrekturmaßnahmen für den Kampf gegen die ausufernde Korruption des Herrschaftsapparates – wobei auch gleich politische Rechnungen beglichen werden, sowie die Notwendigkeit innerer wirtschaftlicher Korrekturmaßnahmen, um nicht in die sogenannte „Middle-Income-Trap“ zu geraten.

Kilic: Was bedeutet „Middle-Income-Trap“?

Seinitz: Das ist die Stagnation an der oberen Grenze mittlerer Entwicklung und die Gefahr vieler Schwellenländer stecken zu bleiben. Es müssen neue, höhere Marktsegmente, neue Wege der Wertschöpfung erschlossen werden und natürlich Jobs, Jobs, Jobs geschaffen bzw. gesichert werden.

Kilic: Eine wie große Rolle spielen diese Jobs in der Entwicklung Chinas?

Seinitz: Jobs sind das Um und Auf der Stabilität des politischen Systems in dem Reich der 1400 Millionen Menschen – das ist zweimal die EU plus die USA. Solange diese Menschen die Gewissheit haben können, dass es ihnen in ein, zwei oder fünf Jahren noch besser geht als gestern und heute, werden sie nicht das Bedürfnis haben, dieses System zu zerstören.

Kilic: Ist die chinesische Job-Maschine so wichtig?

Seinitz: Ja. Die chinesische Job-Maschine der letzten zehn bis zwanzig Jahre, durch Hereinholen ausländischer Investitionen, ist an ihre Leistungsgrenze gelangt, wenn schon chinesische Firmen ihre Produktion in billigere asiatische Länder auslagern. Peking hatte auf den Wall Street Krach von 2008 und die folgende Weltwirtschaftskrise mit einem enormen Investitionsprogramm und mit Milliardenspritzen, vor allem für die vier großen Staatsbanken, reagiert – Stichwort „too big to fail“, allerdings noch viel massiver als bei uns in Europa. Heute hat China zwar nach wie vor den größten Devisenschatz der Welt, aber eine Binnenverschuldung von mutmaßlich schon über 200 Prozent. Wobei die Zentrale in Peking Mühe hat, den Überblick über die Verschuldung von Provinzen, Gemeinden, Schattenbanken etc. zu gewinnen. Noch mehr Geld in die Wirtschaft pumpen birgt die Gefahr der Inflation. Andererseits haben die trotz von nationalem Ehrgeiz getragenen Hyperinvestitionen und Prestigeprojekte wie das größte Hochgeschwindigkeitszügenetz der Welt, die längsten und höchsten Brücken der Welt, das größte Autobahnnetz der Welt, nicht wirklich jene notwendige Masse an Jobs geschaffen.

Kilic: Jüngste Daten lassen den Schluss zu, dass China an Fahrt verliert. Die Aktienkurse sind auf Tauchfahrt gegangen. Womit hängt das zusammen?

Seinitz: Das hängt zum Teil mit Trumps Maßnahmen gegen den Freihandel zusammen, aber nicht nur. Ich möchte aber davor warnen, das Auf und Ab wirtschaftlicher Zuwachsraten – egal ob 6,8 %; 6,7 %; 6,6 % oder 6,5 % – wie einen Fetisch zu behandeln. Die Statistik wird vom jeweiligen Entwicklungsniveau gemessen, welches in China stark ansteigt. Bei niederem Niveau hatte China statistisch zweistellige Zuwachsraten. Bei noch höherem Niveau wird die Prozentzahl sinken, obwohl das Volumen zumindest gleich bleibt. Nichts desto weniger braucht China den Ausbau des Dienstleistungs- sowie des Klein- und Mittelbetriebe Sektors in einer von Konsum geleiteten Wirtschaft. Zugleich drängt der nationale Ehrgeiz sich an die Spitze der globalen Entwicklung zu setzen und da zahlt es sich aus, dass ein straff geführter Staat die Kräfte und die notwendigen Ressourcen bündeln kann.

Kilic: Welches Ziel verfolgt China? Wie kann der Staat seine Kräfte und notwendigen Ressourcen bündeln?

Seinitz: Das Ziel heißt: führende Rolle in der digitalen Welt, wie künstliche Intelligenz oder Biotechnologie. Dieses Ziel soll 2025 erreicht werden und 2035 soll Chinas Modernisierung vollendet sein. Chinas Entwicklung wird in drei Stufen beschrieben: von „Made in China“ über „Made from China“ zu „Made by China“. Das Wort „Werkbank der Welt“ will China nicht mehr hören. Man macht sich bei uns kaum eine Vorstellung, wie die Chinesen der etwa 400 Millionen starken Mittelschicht heute schon in der digitalen Welt leben. In China stirbt das Geld in realer Form einfach aus. Man hat für alles eine App am Handy, kauft digital und zahlt digital. In manchen Restaurants ohne Servierpersonal wird digital bestellt und ein Roboter schiebt es an den Platz. In Geschäften und Restaurants ohne Kassen wird beim Hinausgehen automatisch abgebucht. Chinesische Touristen kommen sich bei uns in Wien wie in der wirklich alten Welt vor, wenn sie nach Kreditkarte oder gar Bargeld gefragt werden.

Kilic: Ist China somit nicht nur modernisierungswillig, sondern regelrecht modernisierungswütig?

Seinitz: Das Reich der Mitte denkt global und langfristig. Auf der Suche nach neuen Absatzmärkten und Einflussausweitung wurde die Neue-Seidenstraße-Initiative erfunden. In dieses Vorhaben werden enorme Investitionsmittel für Infrastrukturmaßnahmen außerhalb Chinas gesteckt, die ein Vielfaches des seinerzeitigen Marshallplans ausmachen. Chinas Außenpolitik ist Rohstoffsicherungs- und Exportabsatz-Politik. Diese Transport- und Niederlassungs-Strategie wird Perlenkette genannt und sie reicht von den umstrittenen Inseln im Südchinesischen Meer über Südostasien, Sri Lanka, Pakistan bis zum Golf und Ostafrika. Die Hauptroute der Neuen Seidenstraße reicht nach Europa, vornehmlich nach Deutschland im Norden, Ungarn in Zentraleuropa sowie Griechenland, Balkan im Süden. Dahinter steckt auch ein strategisches Konzept: China rollte Europa auf und Peking lässt sich das vorerst viel kosten. Wirtschaftliche Verbindungen schaffen auch Abhängigkeiten – zuweilen sehr einseitige. China hat in Europa schon mehrere „Anlandezentren“ geschaffen, von denen der Hafen von Piräus der spektakulärste ist. Peking plant von dort den Ausbau der Transitroute über den Balkan: Bulgarien, Mazedonien.

Kilic: Quizfrage die mir dazu einfällt: Wer ist früher in Belgrad: China oder die EU? Nun, wer spielt dabei in Europa eine wichtige Rolle?

Seinitz: Chinas enger Partner in Europa ist ein Forum mit dem Namen „16+1“ aus osteuropäischen, südosteuropäischen EU-Staaten und EU-Beitrittskandidaten. Diese 16 investitionshungrigen Staaten sollen mit dem Reich der Mitte eng vernetzt werden durch günstige Kredite der chinesischen Staatsbanken und Investitionen von Konzernen, die manchmal nur dem Namen nach privat sind, in denen aber staatliches Kapital steckt. So kommt es vor, dass sich chinesische Firmen in der EU an Ausschreibungen beteiligen, unschlagbar günstig anbieten, den Zuschlag erhalten und dazu noch die für dieses Projekt vorgesehene EU-Förderung, wie jüngst geschehen bei der kroatischen Brücke nach Dubrovnik. Eine chinesische Firma hat dort ein österreichisches Unternehmen ausgestochen. Österreich wollte bisher aus Vorsicht keine derartige Seidenstraßen-Verpflichtung eingehen. Staaten, die durch übermäßige China-Kredite in die Schuldenfalle – und damit in Abhängigkeit – geraten, sind ein deutliches Warnzeichen. Auch sind die bevorzugen Ansprechpartner Chinas, welches nicht nach Menschenrechten fragt, kein attraktives Beispiel. Jedenfalls treten Ungarn, Griechenland & Co. schon jetzt innerhalb der EU als politische Interessenssachwalter Chinas auf. Beide verhinderten so im Vorjahr EU-Kritik an der Menschenrechtslage in China. Tschechiens verhaltensauffälliger Präsident Milos Zeman bot China sein Land sogar als wörtlich „unsinkbaren Flugzeugträger“ an.

Kilic: Gibt es noch weitere Kotaus über China, welche Sie anführen können?

Seinitz: Ja natürlich. Südafrika beispielsweise lässt den Dalai Lama, immerhin ein Nobelpreiskollege des Nelson Mandela, nicht mehr einreisen. Die Firma Daimler entschuldige sich in Peking für ein Zitat des Dalai Lama in der Werbung. China hatte mit Konsequenzen gedroht.

Kilic: Was macht China in Europa noch?

Seinitz: Viel. Im hochentwickelten Teil Europas befand sich China in den letzten Jahren im Einkaufsrausch. Es sind strategische Vorstöße, um Hochtechnologie zu erwerben, die China zur Weiterentwicklung brauchen kann. Dahinter steckt ein ausgeklügelter Wirtschaftsplanungsapparat, die „National Development and Reform Commission“ und Parteien, welche immer das letzte Wort haben. Chinesisches Kapital hat Volvo aufgekauft, finanziert den umstrittenen britischen AKW-Riesen Hinckley Point, und hat Anteile in Betreiben wie der Deutschen Bank, Daimler, Flughafen Heathrow, Peugeot, Citroën, Pirelli, im Stromversorger des Landes Portugal, in nationalen Fluglinien und in Hotels. Weingüter in Frankreich sind das Hobby chinesischer Oligarchen.

Kilic: Ist Reichtum in China verpönt? 

Seinitz: Sicher nicht. Denn China hat bereits die weltgrößte Zahl die weltgrößte Zuwachsrate an Dollarmilliardären; jede Woche einen mehr. Spitzenunternehmer sind sogar als nationale Helden des Volkes Mitglieder des Volkskongresses, des Parlaments, und sogar Mitglieder der Kommunistischen Partei, die einmal den Kapitalismus abschaffen wollte. Das alles muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. In den meisten chinesischen Konzernen steckt aus ihrer Entstehungsgeschichte heraus staatliches Kapital. Der heute weltgrößte Telekommunikationsausrüster Huawei wurden sogar von einem Oberst der Armee gegründet. Viele Staaten haben bei Aufkäufen aus China nun die Sicherheits-Notbremse gezogen. Im Zuge seiner Disziplinierungspolitik und nach massiven Korruptions- und Misswirtschafts-Skandalen von Konzernbossen hat Chinas Führung zuletzt dem Spielraum des Privatunternehmertums deutliche Grenzen gesetzt. Staatschef Xi Jinping hat sich demonstrativ hinter die staatlichen Großkonzerne, etwa jene der Energiewirtschaft, gestellt und will den Einfluss der Partei in der Wirtschaft ausweiten. Altmarxisten spüren schon Oberwasser und melden sich zu Wort. Einer erregte nationales Aufsehen in seinem Blog, wonach der Privatsektor seine historische Aufgabe erfüllt und nun zu verschwinden habe. In der heftigen Debatte darüber wurde zwar auch spekuliert, ob es als Satire gemeint gewesen sei, doch die Reformer sind logischerweise beunruhigt.

Kilic: Was können Sie mir über die Sinisierung des Marxismus bzw. Erziehungsdiktatur in China erzählen?

Seinitz: Was heißt in China schon Kommunismus. Die Partei, die man einfach „Partei der Macht“ nennen sollte, ist zwar die größte Partei der Welt, aber ihre 78 Millionen Mitglieder sind doch nur knapp mehr als 5 Prozent der Bevölkerung. Sie nennt ihre Diktatur „soziales Management“ und ihre Ideologie „Sozialismus mit chinesischen Vorzeichen“. Meiner Meinung nach ist diese Sinisierung des Marxismus nichts anderes, als die Rückkehr zum jahrhundertealten Urzustand Chinas, dem Konfuzianismus, oder hin zu einem Neo-Konfuzianismus des 21. Jahrhunderts; zumal beide Systeme, der Sowjetkommunismus und der Konfuzianismus den gleichen Herrschaftsmechanismus haben: die straffe Macht- und Gehorsamspyramide.

Kilic: Kommen wir in eine konfuzianische Erziehungsdiktatur?

Seinitz: Nein. China ist schon eine konfuzianische Erziehungsdiktatur und die neueste Entwicklung ist die Einführung eines sogenannten „Sozialkreditsystems“. Ziel ist der gute, systemkonforme – früher hätte man gesagt: fromme – Bürger. Böse Taten werden bestraft, gute Taten belohnt. In dem Punktesystem können beispielsweise gute Taten, wie regelmäßig die Eltern besuchen – (eine konfuzianische Pflicht) – beispielsweise ein upgrading im Reiseverkehr erwirken und böse Taten können zum Ticketverbot führen. Ein solches Punktesystem funktioniert natürlich nur mit totaler, totalitärer Kontrolle. Alle elektronischen Daten des gläsernen Bürgers werden gesammelt, Straßen systematisch videoüberwacht, Übeltäter per digitaler Gesichtserkennung aus der Menge herausgefiltert. China ist die erste digitale Diktatur der Welt. Es will sein System niemandem aufdrängen. China hat keinen Missionierungseifer. Das Reich der Mitte ruht in sich selbst.

Kilic: Ist dieses China eine Gefahr für die Welt?

Seinitz: Ich meine: nein. Chaos in China wäre die wirkliche Gefahr. Das Reich der Mitte hat keine Eroberungsgeschichte wie etwa jene der Mongolen und anderer in Europa. Kein aggressives Volk baut die größte Verteidigungsmauer der Welt. China baute seinen Einfluss über Jahrtausende durch zivilisatorische Hegemonie aus. Fremde Herrscher, die dem Sohn des Himmels durch Tributbesuche ihre Aufwartung machten, wurden wohlwollend in den chinesischen Kosmos aufgenommen. Ich kann mir nicht helfen, aber bei den heutigen Staatsbesuchsempfängen in Peking und der Neue-Seidenstraße-Initiative kommen mir solche Erinnerungen in den Sinn. China ist jedenfalls das einzige Imperium der Welt, das zurückgekehrt ist. Alle anderen sind – außer mit Erbstücken – ein für allemal aus der Geschichte verschwunden.

Kilic: Ist China stabil?

Seinitz: In seiner langen Geschichte war China immer wieder auseinandergefallen, ist aber wieder zusammengewachsen. Mao Zedongs Kulturrevolution – ich nenne sie Unkultur Revolution – hätte China fast zerstört. Auch danach war Chinas KP von Flügelkämpfen gebeutelt und aktuell sagt man in der Partei dem Vorsitzenden Xi Jinping Opposition gegen seinen Kurs nach. Bei meiner Begegnung 1972 mit Maos loyalem Weggefährten und Regierungschef Zhou Enlai, der die ärgsten Auswüchse verhindert hatte, frug ich ihn pseudonaiv, weshalb es in China nur eine Partei gebe. Er erklärte das geduldig damit, dass Chinas KP eine Befreiungsbewegung gewesen sei, die dann die Verantwortung für den Aufbau Chinas übernommen hatte.„Aber“, so schloss er verschmitzt, „glauben Sie mir: Auch wenn es in einem Land nur eine Partei gibt, so gibt es doch viele Parteien in dieser Partei“. Aktuell gesehen sind wahrscheinlich die Millionäre in der Partei mit ihren Finanz- und Wirtschaftsinteressen das stabilisierende Element in China. Alles in allem ist das Reich der Mitte, wie es der frühere ORF-Korrespondent in Peking, Raimund Löw, in seinem jüngsten Buch „Weltmacht China“ ausdrückt: das größte Comeback aller Zeiten.

Kilic: Vielen Dank Herr Seinitz für diese ausführlichen Informationen. Was möchten Sie mir nun als Abschluss zum Thema China noch mitgeben?

Seinitz: Ich danke Ihnen. Ich begann mit einem Zitat und ich möchte mit einem Zitat enden. Napoleon wird der Ausspruch zugeschrieben „China ist ein schlafender Riese, lasst ihn schlafen, denn wenn er erwacht, wird die Welt erzittern“. Der Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, Prof. Eberhard Sandschneider, wurde bei einer Diskussion gefragt: „Wie lässt sich der Riese, von dem Napoleon gesprochen hat, zähmen?“ Sandschneider dazu: „Die Antwort ist ganz einfach: Gar nicht!

 

Buchtipp:

Vorsicht China! Wie das Reich der Mitte unser Leben verändert. Ecowin Verlag. Salzburg 2006, ISBN 3902404280

Zeitbombe China: Wie das Reich der Mitte unser Leben bestimmt. Ecowin Verlag. Salzburg 2012, ISBN 9783711050854

Info über China

Kurt Seinitz -Zeitbombe China!

Wie das Reich der Mitte unser Leben bestimmt

Wussten Sie? dass China mit 1,3 Milliarden Einwohnern 21 Prozent der Bevölkerung der Welt, aber nur 7 Prozent der landwirtschaftlichen Nutzfläche der Welt aufweist? Erst in den Achtzigerjahren konnte sich China Nahrungsmittel-Importe leisten. China ist mit steigendem Lebensstandard bald der größte Agrarimporteur der Welt.

Wussten Sie:

-dass jedem Chinesen nur knapp die Hälfte an Süßwasser zur Verfügung steht wie dem Durchschnitt aller anderen Erdbewohner; und auch von dieser Hälfte sind nur noch ein Viertel der Wassermenge als „rein“ zu bezeichnen? Wasser ist Chinas größte nachhaltige Sorge.

-dass seit 2011 die Hälfte der chinesischen Bevölkerung in Städten lebt?

-dass China mit 3,2 Billionen Dollar die größten Fremdwährungsreserven angehäuft hat (40 Prozent der Welt, jede Minute plus 1 Million Dollar; statistisch 2400 Dollar pro Chinese) und mit dem Erwerb von 750 Milliarden Dollar an US-Staatsschuldverschreibungen die defizitäre Außenhandelsbilanz der USA abstützt?

– dass der Wirtschaftsaufstieg 400 Millionen Chinesen aus der Armut geholt hat; der größte und historisch rascheste Beitrag zur Verringerung der Armut in der Welt?

-dass China der größte Energiekonsument geworden ist – und der größte Umweltsünder?

-dass in China jedes Jahr zwei AKW und jede Woche zwei Kohlekraftwerk in Betrieb gehen?

-dass es in China 80.000 Einkaufszentren gibt, darunter die größten der Welt –nur zwanzig Jahre nach der Erbauung des ersten?

-dass Shanghai über das größte U-Bahn-Netz der Welt verfügt, aber erst 1995 die erste Linie eröffnet hat?

-dass 200 Millionen Wanderarbeiter*innen das neue China mit seinen 160 Millionenstädten – ( davon 20 Megacities mit je über 10 Mio. Einwohnern ) – aufbauen?

– dass weitere 300 Millionen Chinesen*innen, sogenannte „Industrie-Nomaden“ ihr Glück in den Städten suchen werden?

-dass Chongqing im Inneren Chinas der größte städtische Ballungsraum der Welt ist mit 34 Millionen Einwohnern*innen – und funktioniert?

– dass in der Stadt Datang jährlich 9 Milliarden Paar aller Strümpfe und Socken, also rund die Hälfte des jährlichen Weltbestands, erzeugt werden?

-dass die Zahl der Mobiltelefonbesitzer*innen die Milliardengrenze und die der Internetnutzer*innen die 500-Millionen-Grenze überschritten hat?

-dass die Hälfte des enormen Handelsbilanzdefizits der USA gegenüber China von US-Firmen stammt, die in China produzieren lassen?

-dass in China 680 Menschen bei Autounfällen sterben – täglich (USA: 115)?

-dass in China mehr Menschen Englisch als Zweitsprache sprechen als in den USA als Muttersprache?

-dass im Jahre 2007 Chinesisch bald das Englische als vorherrschende Computersprache ersetzt hat?

-dass die vierzigtausend Betriebe von über eine Million Taiwaner*innen, die mit ihrer eigenen Infrastruktur auf dem Festland leben, direkt oder indirekt 6 Millionen Chinesen*innen Arbeitsplätze schaffen – und damit einen Beitrag zur Stabilität in China leisten? China ist Taiwans größter Kunde.

-dass China schon der größte IT-Hardware-Exporteur in die USA ist? Davon stammen 60 Prozent aus taiwanischen Betrieben, die auf dem Festland produzieren.

-dass in Chinas Küstenprovinzen die Löhne  – inflationsbereinigt – in zweistelliger Höhe steigen und ein chinesischer Autokonzern auch deshalb ein Werk in Bulgarien eröffnet hat.

-dass kein Land mehr Studenten*innen ins Ausland schickt; in der Regel in die USA, wo derzeit 600.000 Chinesen*innen die größte Zahl an ausländischen Studenten*innen darstellen?

-dass in Chinas Wirtschaft heute über 100 Milliarden Dollar ausländisches Geld stecken; das meiste aus den anderen Ländern Asiens ( von Chinesen*innen aus dem Ausland ) – ein Zeichen des Vertrauens?

-dass das „kommunistische“ China mit dem größten Börsengang der Geschichte, dem Verkauf von 15 Prozent der Staatsbank ICBC um 22 Milliarden Dollar, auch Privatisierungsweltmeister ist?

-dass das „kommunistische“ China 800.000 Dollar-Millionäre zählt (Stand 2002: Null), davon 105 Dollar-Milliardäre im Jahre 2012. Chinas oberste Tausend besitzen ein Vermögen von 600 Milliarden Dollar. Angesichts des Durchschnittsverdienstes eines Arbeiters in Beijing von umgerechnet 500 Euro ist die Kluft zwischen Arm und Reich größer als in den USA.

-dass China im Eiltempo 2009 Deutschland  als Exportweltmeister und  2010 Japan als die  zweitgrößte Wirtschaftsmacht überholt hat; jeweils weit rascher als die Prognosen eingeschätzt hatten? Für 2030 ist die Überrundung der USA vorausgesagt.

-dass China Autonation Nummer eins ist? VW verkauft in China mehr Autos als in Deutschland.

-dass China der größte Konsument von Gold ist?

 

 

Relevante Artikel

Back to top button
Cookie Consent mit Real Cookie Banner