Ein Blick auf die ersten türkischen Lehrlinge und Arbeiter in Europa aus österreichischen Quellen

İsmail Tosun Saral
İsmail Tosun Saral

Ismail Tosun Saral, der Autor des Buches Rot-Weiß-Rot, das wir gemeinsam mit dem Verlag Neue Welt und der Zeitung Yeni Vatan herausgegeben haben, hat einen wichtigen und informativen Artikel mit dem Titel „Ein Blick auf die ersten türkischen Lehrlinge und Arbeiter in Europa aus österreichischen Quellen“ geschrieben. Saral, der sich der türkisch-ungarischen Freundschaft und Brüderlichkeit sowie der Verbreitung der ungarischen Kultur und Liebe in der Türkei verschrieben hat, ist Präsident der Türkisch-Ungarischen Freundschaftsgesellschaft mit Sitz in Ankara.  Saral ist Träger der vom ungarischen Staatspräsidenten verliehenen Goldmedaille für besondere Verdienste.

von İsmail Tosun Saral

Am Nachmittag des 10. Dezember 1961 verließ ich den Bahnhof Sirkeci in Istanbul, um an der Universität Wien Wirtschaft und Welthandel zu studieren, und nach einer beschwerlichen Reise, die zwei Nächte und drei Tage dauerte, kam ich am 13. Dezember 1962 am Wiener Südbahnhof an. Der Zweck der Erzählung meiner Zugreise von Istanbul nach Wien ist es, die Reise und die Schwierigkeiten zu vermitteln, die unsere arbeitenden Bürgerinnen und Bürger, die in verschiedene Länder Europas, insbesondere nach Deutschland, eingeladen und geschickt wurden, in jenen Jahren der 1960er Jahre in einem schwarzen Zug erlebten. [1]

In den 1950er und 1960er Jahren konnte man Europa nur mit dem Zug erreichen. Außer mir saß noch ein jordanischer Student namens Ragıp el Shammut im schwarzen Abteil des Zuges, der in Sirkeci abfuhr. Im Morgengrauen fuhr unser Katar, also unser schwarzer Zug, zum ersten Mal auf griechischem Boden. Die Brücke zwischen der türkischen und der griechischen Grenze war auf der einen Seite türkisch, auf der anderen griechisch. Die türkischen Grenzsoldaten begrüßten den vorbeifahrenden Zug mit Gewehrsalven. Alle Passagiere des Zuges drängten sich vor Begeisterung an den Fenstern und riefen dem heldenhaften Mehmet „Hurra“ zu. In den folgenden Jahren wurde es zur Tradition, dass unsere Arbeiter, die aus Europa in den Urlaub kamen, ihrem geliebten Mehmet Zigaretten, Lebensmittelpakete, Pralinen usw. zuwarfen. Auf der griechischen Seite waren auch Soldaten. Aber die saßen nur da und schauten dem Zug hinterher.

Vor 1960 wurde die Entsendung von Türken zur Berufsausbildung nach Europa durch das Tanzimat-Edikt vom 3. November 1839 in Frage gestellt. Auf dieses Thema werde ich weiter unten eingehen.

Das Tanzimat-Edikt vom 3.11.1839 ! Erster konkreter Schritt zur Verwestlichung

Das Tanzimat-Edikt ist der erste konkrete Schritt der Verwestlichung in der Geschichte des Osmanischen Reiches bzw. der Türkei. Es wurde am 3. November 1839 von Außenminister Koca Mustafa Reşid Pascha während der Regierungszeit von Sultan Abdülmecid verlesen. Da es im Gülhane Park verlesen wurde, ist es auch als Gülhane Hatt-ı Şerifi (Brief des Sultans), Gülhane Hatt-ı Hümâyûnu oder Tanzimât-ı Hayriye (Gute Vorschriften) bekannt. Mit diesem Edikt erklärte der Staat, dass er sich erneuern müsse. Mit der Französischen Revolution 1789 begannen Intellektuelle und neue Ideen im Osmanischen Reich aufzutauchen. Das Edikt wurde am 3. November 1839 im Gülhane Park verkündet, um die negativen Auswirkungen des Drucks der Intellektuellen, die vor allem eine konstitutionelle Regierung befürworteten, die Idee, dass die durchgeführten Reformen dauerhaft sein sollten, und die Ideen des Nationalismus, die mit der Französischen Revolution ins Land kamen, zu beseitigen. Denn das Osmanische Reich war ein Vielvölkerstaat wie die österreichisch-ungarische Monarchie, die ebenfalls darunter litt.

Meine Erinnerungen an die Reise von Istanbul über Bulgarien nach Wien 1961

Nach einer etwa fünfzehnminütigen Fahrt auf griechischem Gebiet erreichten wir wieder unser Heimatland. Ein kleiner Teil der Eisenbahnlinie Sirkeci-Edirne, die wir während des Balkankrieges in Ostthrakien verloren hatten, war von unserer Regierung stillgelegt worden, nachdem die Zypernfrage beide Länder in den Kriegszustand versetzt hatte, und eine neue Strecke wurde innerhalb unserer Grenzen gebaut.  Nach der Abfahrt in Sirkeci fuhren wir durch Uzunköprü wegen der Passkontrolle auf dem Weg nach Bulgarien. In Bulgarien wurde unsere Lokomotive durch eine elektrische Lokomotive ersetzt. In ganz Bulgarien, Jugoslawien und Österreich fuhren die Züge mit Strom. An der bulgarischen Grenze bestiegen furchterregende Soldaten mit automatischen Waffen die Waggons, sie trugen lange graue Mützen und ihre Röcke reichten bis zum Boden.  Bis dahin hatte ich als Kind in einer freien und glücklichen Türkei gelebt, hatte nie Angst vor Polizei, Gendarmerie oder Soldaten gesehen oder gekannt. Ein bulgarischer Soldat befahl uns in halbtürkischer Sprache, das Abteil nicht zu verlassen und die Fenster nicht zu öffnen. Nach der Passkontrolle wurden die Außentüren des Waggons verschlossen und wir fuhren unter der Aufsicht eines bewaffneten Soldaten weiter.

Nach der Abfahrt des Zuges durften wir das Abteil verlassen und unseren natürlichen Bedürfnissen nachgehen. Die Bulgaren lebten unter einem strengen kommunistischen Regime. Die Menschen trauten sich nicht. Vor allem die Türkischstämmigen standen unter großem Druck. Aus Angst, sie und die Bulgaren könnten mit dem Zug fliehen, wurden strenge Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Der Zug kam in der alten türkischen Stadt Plovdiv an. Ich öffnete das Fenster des Waggons und schaute hinaus. Plötzlich fiel mein Blick auf eine Gruppe von Frauen, die auf den Zug zuliefen. An ihrer Kleidung war deutlich zu erkennen, dass es sich um Türken handelte. Gerade als sie an mir vorbeigingen, stolperte eine junge Frau und fiel hin. Sie trug einen Shalwar unter ihrem Rock. Ich musste lachen, als ihre andere Freundin peinlich berührt in ihrem schönen Urumeli-Akzent rief: „Mädchen, man hat deinen Schlüpfer gesehen“. Ich erinnere mich noch gut an dieses schöne, anständige türkische Mädchen.

Aus Istanbul nach Wien: Reise durch Jugoslawien, 1961

Nachdem wir den ganzen Tag durch Bulgarien gefahren waren, kam unser Zug am Abend in Jugoslawien an. Jugoslawien war auch ein kommunistisches Land, aber das Leben war angenehmer und freier. In der Abenddämmerung kamen wir in Niš an. Neugierig stieg ich aus dem Waggon und betrat das Bahnhofsgebäude. Das Gebäude war voller Menschen, die „in Tierfelle gekleidet“ waren, und der Wartesaal stank sehr. Ich war überrascht, ging sofort hinaus und kehrte zu meinem Waggon zurück. Das Abteil war voller Nislis, und einer von ihnen saß auf meinem Platz. Im Abteil war auch ein Soldat in Uniform. Er saß mit seinen gestiefelten Füßen auf dem ausziehbaren Tisch vor dem Fenster und schaute dem Fahrgast vor ihm ins Gesicht. Ich sagte dem Nisli, der auf meinem Platz saß, auf Türkisch, Deutsch und Englisch, dass das mein Platz sei. Das hat er natürlich nicht verstanden. Dann habe ich ihn am Kragen gepackt und geworfen. Dann stand er wieder auf, als ob er mich angreifen wollte, aber der Soldat griff heftig ein und der Mann ging weg. Ich bin nie wieder aufgestanden, die Jugoslawen waren sehr schmutzig. Nach einem Tag war das Auto eine Latrine.  1961 sind wir um Mitternacht in Belgrad angekommen.

In Belgrad wurde unser Waggon vom Istanbuler Zug abgekoppelt und in den Zug nach Wien gesetzt, der auf einem anderen Gleis wartete. Dabei wurden viele türkische Fahrgäste, die aus Neugier am Belgrader Bahnhof ausgestiegen waren, am Bahnhof zurückgelassen, weil sie ihren Waggon nicht wiederfanden und die Sprache nicht sprachen.  Der Zug fuhr den ganzen Tag über jugoslawisches Gebiet. In der Abenddämmerung erreichten wir Novi Sad, dann Maribor und nun war es nur noch ein kurzes Stück bis nach Österreich.

Einreise nach Österreich 1961

Nach einer Fahrt durch tiefe Täler, fließendes Wasser und düstere Orte erreichte unser Frühzug den Grenzbahnhof Spielfeld in Österreich. Mein Gott!  Die Welt hat sich verändert. Das Tor zu einer Welt der Zivilisation und des Reichtums, der Eleganz und Kultiviertheit öffnete sich. Neugierig schaute ich aus dem Zugfenster und sah adrette österreichische Frauen mit Eimern und Putzzeug in den Händen. Sie waren offensichtlich geschult und wussten um den Schmutz im Zug. Während der Zug weiterfuhr, reinigten die Putzfrauen alle Waggons und machten sie blitzsauber. Unsere Waggons waren blitzsauber. Ich hatte seit zwei Tagen weder gegessen noch getrunken. Ich erklärte einer der Putzfrauen in meinem halbherzigen Deutsch mein Problem. Sie sagte „Ja“, deutete mit der Hand nach vorne und sagte etwas wie „Warte, da kommt er“. Kurze Zeit später sah ich einen Zugbegleiter, der auf einer Schubkarre verschiedene Erfrischungsgetränke und Lebensmittel verkaufte. Das österreichische Dienstmädchen wies die Leute, die sich auf sie stürzten, ruhig an, ihre Plätze einzunehmen, und stellte sich an die Türen der einzelnen Abteile, um ihre Waren zu verkaufen.

Ich wartete ungeduldig, bis unser Abteil an der Reihe war. Ich bezahlte und aß und trank nach Herzenslust. Zwei Tage Hunger über Bulgarien und dann Jugoslawien waren zu viel für mich. Am Bahnhof Spielfeld stiegen österreichische Reisende ein. Es waren schöne, sauber gekleidete Leute. Sie waren die ersten Österreicher, die ich auf meiner Zugfahrt zum Beginn meines Studiums in Wien traf, das ich in Şirkeci in Istanbul begonnen hatte. Da es Winter war, trugen sie lange grüne oder braune Mäntel und Jacken. Sowohl Männer als auch Frauen trugen moderne Hüte. Einige Männer trugen Strickjacken, andere ihre heimischen grünen Hüte mit Federn. Alle waren gepflegt und sauber.

Meine Erinnerungen an die Ankunft in Wien 1961

Die Jahre, die ich in Wien verbrachte, fielen in die Zeit, als die ersten türkischen Gastarbeiter nach Wien kamen. In dieser Zeit entwickelte sich eine entfernte Vertrautheit zwischen mir und Herrn Metin, dem zuständigen Konsul an der Wiener Botschaft. Es war Ende 1962, Anfang 1963, als er mich eines Tages anrief und mir mitteilte, dass eine Karawane von Arbeitern aus Istanbul nach Wien käme und ich sie vom Bahnhof abholen und zu ihren Fabriken begleiten sollte. Ich sagte zu, da es sich um mehr oder weniger qualifizierte türkische Staatsbürger handelte.  Die österreichischen Werksleiter holten mich mit dem Auto ab und wir trafen uns mit den Arbeitern, die an einem kalten Wiener Morgen früh am Südbahnhof ankamen. Natürlich sprachen sie kein Deutsch. Unsere Arbeiter waren arm, aber stolz. Sie trugen alle Anzüge und Krawatten, Hüte und Mützen. Ihre Kleidung war altmodisch, aber makellos sauber. Offensichtlich hatten ihre Mütter oder Schwestern sie mit Seifenwasser gewaschen und gebügelt, dem einzigen Waschmittel, das es damals gab.   Ich stellte mich vor und sagte, ich sei ihr Führer und sie sollten mir ruhig folgen. Die ganze Gruppe war älter als ich, aber sie begrüßten mich wie einen Zugführer und gehorchten mir. Wir setzten sie in Busse und brachten sie zur Fabrik in Wien, wo sie arbeiten sollten.

Unsere ersten Leute, die nach Wien kamen, waren so schöne, gut erzogene, stolze Menschen, die unseres Vaterlandes würdig waren.

Nach ihrer Ankunft ging ich lange Zeit in die Fabrik, um ihre rechtlichen Angelegenheiten zu regeln und sie zu fragen, ob sie etwas brauchten. Nach einer Weile langweilte mich diese Arbeit und ich gab sie auf. Solange ich bei ihnen war, haben sie mich immer respektiert. Jahre später, als wir uns an verschiedenen Orten trafen, versuchten sie sogar, mir die Hand zu küssen. Sie waren so schöne, anständige, stolze Menschen, die unseres Landes würdig sind. Das sind die Vorfahren der ersten Generation unserer Landsleute, die heute in Wien Fuß gefasst haben. Damals kamen auch die spanischen Gastarbeiter nach Wien. Im Vergleich zu unseren Arbeitern waren sie in einem unvergleichlichen Zustand. Ihre Hemden waren zerrissen, manche hatten nackte Füße. Unsere Leute dagegen wurden ordentlich aus dem Land geschickt, als ob sie zu einer Theateraufführung gingen. Wir waren im Grunde ein solches Volk!

Österreich sucht türkische Arbeitskräfte

Vor Abschluss des Arbeitsabkommens zwischen der Türkei und Österreich lebten 1951 112 Türken in Österreich, 1961 waren es 217. Der Anteil der Türken an der ausländischen Bevölkerung betrug 0,2 Prozent. Heute leben mehr als 350.000 Menschen türkischer Herkunft in Österreich, davon 185.000 mit türkischer Staatsbürgerschaft, und es werden täglich mehr. Viele von ihnen unterstützen die österreichische Wirtschaft und das österreichische Leben in allen Bereichen. Die türkische Migrationsbevölkerung konzentriert sich auf die Bundeshauptstadt Wien sowie auf Nieder- und Oberösterreich, Tirol und Vorarlberg.

Wie alles begann – Datum 3. November 1839

Mit dem Tanzimat-Edikt vom 3. November 1839 wurde der erste wichtige Schritt zur Verwestlichung gesetzt: Zivil- und Militärstudenten wurden zur Ausbildung nach Paris, London, Berlin und Wien geschickt.  Artillerie- und Ingenieuroffiziersanwärter der Istanbuler Artillerie- und Ingenieurschule (Mühendishane-i berriyi hümayün) wurden zur theoretischen und praktischen Artillerieausbildung nach Wien geschickt [2].  Am 21. August 1841 nahmen junge türkische Fähnriche der Wiener Artillerieschule an einem Manöver auf dem Artilleriefeld in der Simmeringer Haide bei Wien teil und wurden für ihr ausgezeichnetes Schießen geehrt[4].

Die ersten Massenankünfte von Türken in Österreich und Deutschland zur Berufsausbildung in verschiedenen Arbeitsbereichen fielen in die Jahre 1914-1918, als wir Mitkämpfer waren. Die ersten Ankömmlinge waren Lehrlinge. Nach einem Bericht vom 20. Dezember 1915 aus Stuttgart schlug die türkische Regierung den deutschen Handwerkskammern vor, eine größere Anzahl von Türken im Alter von 12 bis 18 Jahren als Handwerkslehrlinge nach Deutschland zu schicken. Die Handwerkskammern stimmten diesem Vorschlag zu, der für die Zukunft der deutsch-türkischen Beziehungen von großer Bedeutung war,[5] denn diese Schüler würden nicht nur eine Ausbildung in einer deutschen Schule erhalten, sondern vor allem gut Deutsch lernen, ein warmes Zuhause in guten deutschen Familien finden,[6] Hilfskräfte in ihren Betrieben werden und vor allem deutsche Freunde (liebevoll, freundlich) werden.

Diese Nachricht erschien auch in österreichischen Zeitungen, am 21.12.1916 im Grazer Tagblatt als „Die türkische Regierung hat um die Entsendung von Studenten gebeten“. [7] Daraufhin gaben der ungarische Handelsminister Baron János Harkányi und der Landwirtschaftsminister Baron Ghillanyi am 15. März 1916 bekannt, dass sie bereit seien, für jährlich 100 türkische Studierende Studienplätze an ungarischen Handels- und Wirtschaftsschulen zu reservieren.  Gemäß diesem Beschluss sollten die Eltern der türkischen Kinder, die nach Ungarn kommen würden, nur die Kosten für die Verpflegung tragen[8]. Diese Vergünstigung sollte auch bulgarischen Schülern gewährt werden. Am 15. März 1916 erklärten sich der ungarische Handelsminister, Baron János Harkányi, und der Landwirtschaftsminister, Baron Ghillanyi, bereit, an den ungarischen Handels- und Wirtschaftsschulen Studienplätze für jährlich 100 türkische Studierende zu reservieren.  Nach diesem Beschluss sollten die Eltern der nach Ungarn kommenden Kinder lediglich für die Verpflegungskosten aufkommen[9].

Vor dem Ersten Weltkrieg gab es 140 türkische Studenten an ungarischen Universitäten und Gymnasien. Sie besuchten jedoch keine ungarischen, sondern französische, englische und deutsche Schulen. Diese jungen Leute wurden ermutigt, an ungarischen Schulen zu studieren.

Als der Krieg ausbrach, kehrten die Türken in ihre Heimat zurück und nur ein oder zwei blieben in Budapest.  In den Jahren 1916-1917 kamen erneut 186 Studenten nach Ungarn, und diese Zahl stieg in den folgenden Jahren weiter an.  Der Turán-Verein, der als Forschungsinstitut von Wissenschaftlern in Budapest gegründet worden war, stellte diesen Studenten ein Gebäude zur Verfügung und eröffnete einen Sommerkurs, in dem sie Ungarisch lernen konnten. [10]

In der österreichischen Zeitung Lavanttaler Bote vom 25.4.1914 erschien auf Seite 2 folgender sarkastischer Artikel über diese Kurse:

„Vor drei Jahren reisten mehrere ungarische Geschäftsleute nach Konstantinopel, um Handelsbeziehungen zu knüpfen. Die Ungarn überredeten junge Türken, die Söhne der türkischen Geschäftsleute, mit denen sie Handelsbeziehungen aufnehmen wollten, nach Ungarn zu kommen, um die ungarische Sprache zu erlernen. Etwa 250 junge Türken folgten der Einladung und wurden von ungarischen Industriellen in Fabriken untergebracht. Den Türken wurde gesagt, dass es eine rassische Verbindung zwischen Ungarn und Türken gäbe und dass es leicht sei, Handelsbeziehungen zwischen Ungarn und den Osmanen herzustellen. Türken, die die ungarische Sprache leicht erlernten, konnten sogar in Fabriken jenseits der Leitha arbeiten[11]. Für diese Türken wurde ein eigener Ungarischkurs eingerichtet, und man bemühte sich, sie zu magyarisieren.  Die Tatsache, dass von den 250 Türken, die nach Ungarn kamen, nur 60 den Kurs besuchten, zeigte, dass der Wunsch, Ungarisch zu lernen, nicht vorhanden war. Deshalb schlug der türkische Generalkonsul in Budapest vor, im Rahmen des Kurses auch Deutsch zu unterrichten. Die Idee des Generalkonsuls beruhte auf der Feststellung, dass viele seiner jungen Landsleute ein wenig Deutsch sprachen. Die türkische Regierung leistete keine materielle oder moralische Unterstützung für den Kurs, dessen einziges Ziel es war, jungen Türken, die nach Ungarn kamen, die ungarische Sprache beizubringen. Der Grund dafür war, dass die Kenntnis der deutschen Sprache weitaus vorteilhafter war als das Erlernen der ungarischen Sprache. Ein deutscher Konsularsekretär wurde für den Kurs abgestellt und 400 Personen meldeten sich an, um Deutsch zu lernen. Unter den Teilnehmern waren nicht nur Türken, sondern auch 12 ungarische Offiziere, 40 Beamte der ungarischen Staatskanzlei und ein hoher ungarischer Richter. Man kann sagen, dass dies den ungarischen Behörden nicht besonders gefiel. Denn man hatte sich große Mühe gegeben, die Jungtürken nach Ungarn zu holen, und nun, da sie in Ungarn lebten, verzichteten die Türken darauf, Ungarisch zu lernen, die Sprache des Landes, das ihnen nun die Möglichkeit bot, „voranzukommen“.

Ungarn bemühen sich um türkische Studierende

Der Vorstand des Ungarisch-Orientalischen Kulturzentrums richtete in Debreczen ein Internat ein, in dem auch ungarische Studenten untergebracht wurden, damit die türkischen Studenten aus der Türkei dort wohnen und schnell Ungarisch lernen konnten[12] Am 15. Mai 1916 kamen 48 türkische Studenten in Budapest an, um in verschiedenen ungarischen Schulen zu lernen. [13] Nach einem anderen Bericht belief sich die Zahl der ankommenden Studenten auf 100, von denen die meisten an technischen und landwirtschaftlichen Schulen studierten und vier bis fünf Jahre blieben.  [14] Ungarn eröffnet Wohnheime für türkische Studenten. Am 23. Februar 1917 beschließt der Vorstand des Ungarischen Orientalischen Kulturzentrums, in Debreczen ein Wohnheim für türkische Studenten zu eröffnen. In diesem Wohnheim werden auch ungarische Studenten aufgenommen, damit sich die jungen Leute vermischen und die Türken schnell Ungarisch lernen.  [15]

Auch Österreich mobilisiert. Das Jahr 1916!

Die Tatsache, dass Deutschland und Ungarn eine große Zahl türkischer Schüler aufnehmen, um sie in verschiedenen Berufen auszubilden, mobilisiert auch Österreich. Die Gesellschaft für orientalische und überseeische Angelegenheiten in Wien fordert die Gemeinden und lokalen Behörden in Österreich und Südböhmen auf, türkischen Kindern im Alter von 13 bis 15 Jahren beim Erlernen der deutschen Sprache zu helfen.  Zur Begründung hieß es, das Erlernen der deutschen Sprache sei für den lebenswichtigen Einfluss Österreichs im Osten von großer Bedeutung. So kamen im August 1917 die ersten türkischen Schülerinnen und Schüler, etwa 50 an der Zahl, nach Österreich. [16]

Doch die alte Kälte, wenn auch keine offene Feindschaft, zwischen der Republik Österreich und der Republik Türkei brach nach dem Ersten Weltkrieg 1918 wieder auf und dauert bis heute an.  Österreich, das müde, zerschlagen und erschöpft aus dem Krieg hervorging, vergaß alle Lobeshymnen, die während des Ersten Weltkrieges über die türkischen Verbündeten geschrieben worden waren, und beschäftigte sich mit seinen eigenen Problemen. Ein gutes Beispiel für diesen Gesinnungswandel ist eine Begebenheit, die im März 1919 unter dem Titel „Türkische Kinderkolonie in Wien“[17] in den Zeitungen erschien.

„Vor etwa einem Jahr holte die damalige österreichische Regierung etwa 100 türkische Kinder aus der Türkei nach Österreich, um sie als „Zeichen der Freundschaft“ in höheren Schulen zu unterrichten. Mit dem Sturz der damaligen Regierung verlor sich das Interesse an diesem Akt der Freundschaft. Die Kinder wurden repatriiert. Eine Rückführung war jedoch nicht möglich, da die Eisenbahnverbindung unterbrochen war. Die Kinder kamen in ein Flüchtlingsheim. Sie waren in letzter Zeit in die Schlagzeilen geraten, weil es während ihres Aufenthaltes in diesem Heim zu einer Auseinandersetzung zwischen ihnen und einheimischen Jugendlichen gekommen war. Am 6. März um die Mittagszeit kam es in der Engerthstraße, einer Straße in der Nähe des Heims, zu einer folgenschweren Schlägerei zwischen jungen Männern aus dem Bezirk Brigittenau und einigen türkischen Jugendlichen. In kurzer Zeit versammelten sich viele WienerInnen, die eine bedrohliche Haltung gegenüber den jungen Türken einnahmen. Die jungen Türken flüchteten in ein Gasthaus, aber die Menge drängte weiter und der Kampf brach erneut aus, als einer der bedrohten Türken ein Messer zog. Gegenseitig wurden Messer gezückt. Die Schlägerei dauerte an, bis die Polizei die Situation beruhigte. Drei Personen wurden bei der Schlägerei verletzt. Einer der Verletzten wurde von den Sanitätern in die Notaufnahme gebracht. Am nächsten Tag wurde die gesamte Kolonie der jungen Türken in die Türkei abgeschoben.  Offensichtlich eine Provokation.

Rückkehr der türkischen Studenten in ihre Wohnheime

Hamdullah Suphi Tanrıöver (1885-1966), ein türkischer Dichter und Politiker, erzählt:  „Im Mai 335 (1919) kehrten wir mit dem Mittelmeerdampfer von Hamburg nach Istanbul zurück. Wir waren etwa tausend Studenten und Arbeiter. Ein britischer Offizier war für das Schiff verantwortlich, und ein Mann namens Miralay Talât Bey war von der türkischen Botschaft in Berlin beauftragt worden, während der Reise für Ordnung zu sorgen.  Vor Çanakkale sahen wir die Küste der Heimat. Als wir in den Bosporus einfuhren, war es unsere Pflicht, den dortigen Märtyrerfriedhöfen unsere Ehrerbietung zu erweisen.  Ich lud die Jugendlichen zu einem Treffen auf dem Achterdeck der Fähre ein. In einer kurzen Ansprache teilte ich ihnen meine Gedanken mit. Sie stimmten mir begeistert zu. Auf der einen Seite näherte sich die Fähre dem Bosporus, auf der anderen Seite wuchs die Aufregung der Jugendlichen, die in ihre Heimat zurückkehrten. “ [18]

Der 93. Krieg, der Balkankrieg und die langen Kriegsjahre des Ersten Weltkrieges raubten den größten Teil der gut ausgebildeten türkischen Jugend. Besonders in der Schlacht von Sakarya waren die Verluste an Offizieren so hoch, dass der Oberbefehlshaber Mustafa Kemal Pascha, als die im Ausbildungszentrum in Ankara ausgebildeten Kadetten, darunter auch mein verstorbener Vater[19], um ihren Fronteinsatz baten, dies mit den Worten ablehnte: „Wir brauchen euch jetzt nicht, wir brauchen euch nach dem Sieg.

So übernahmen die wenigen überlebenden aufgeklärten Jugendlichen wichtige Aufgaben in den Gründungsjahren unserer Republik und des neuen türkischen Staates, der am 29.10.1923 gegründet wurde.

[1] Ordu Hayat Zeitung, 19. April 2023, Ausgabe: 5128

[2] Linzer Abendbote: Zeitung für Stadt und Land, 3.12.1856, S.1

[3] Austria oder Oesterreichischer Universal-Kalender von I. P. Kaltenbaeck, K.u.k. Haus-, Hof- und Staats-Archivar.

[4] Ost und West, Blätter für Kunst, Literatur und geselliges Leben, 24.9.1841, S.4

[5] Villacher Zeitung, 24.12.1916, S.4

[6] Deutsches Nordmährerblatt, 7.7.1916, S.3 türkische Schüler in deutschen Familien.

[7] Grazer Tagblatt, 21.12.1916, S.16

[8] Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 15.3.1916, S. 1.

[9] Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 15.3.1916, S. 1.

[10] Melek Çolak, Türkisch-ungarische Militärbeziehungen, 1912-1918 nach ungarischen Quellen, TTK Publications, IV/A-2-2.2nd Series-Sayı:18, Ankara, 2022, S. 86, 110.

[11] Die Leitha ist ein Fluss in Österreich und Ungarn, ein rechter Nebenfluss der Donau. Sie ist 120,8 Kilometer lang.

[12] Fremden-Blatt, 24.2.1917, S. 8

[13] Wiener Zeitung, 16.5.1916, S.13

[14] Deutsches Nordmährerblatt, 16.5.1916, S.4

[15] Fremden-Blatt, 27.2.1917, S.8

[16] Teplitz-Schönauer Anzeiger, 28.4.1917, S.2

[17] Wiener Bilder, 16.3.1919,S.9.10, Die türkische Knabenkolonie in Wien.

[18] Kadir Türker Geçer, Çoban Ateşleri, Bilgi Verlag, Ankara, Mai, 2013 S. 64

[19] Generalmajor Ahmet Hulki Saral, S. 1340 (1924)-7 Kozana 1905-Ankara, 1982,

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