von Kilian Franer, Wien, 23.01.2025
Die Idee eines offenen Bücherschranks geistert seit Ende der 1990er Jahre im deutschen Sprachraum umher. Es wurde mit den verschiedensten Formate experimentiert. Sie tauchten auf in Graz, in Mainz und anderen Städten. Die Idee war, dass es viele Bücher gibt, die ihre Besitzerinnen und Besitzer nach dem Lesen gerne anderen Menschen überlassen wollten. An sich war das keine Neuigkeit. Neu daran war, dass solche Druckwerke traditionell in Antiquariaten landeten, wo sie zum Verkauf feilgeboten wurden. Der Bücherschrank und dessen Apologetinnen und Apologeten verzichteten auf jede finanzielle Gegenleistung für die, dort angebotenen Druckwerke. Man sah in dieser Einrichtung zuallererst eine Art Tauschbörse für Literatur. Und aus dieser war das Medium Geld ausgeschlossen.
Man wollte geben und auch nehmen, ohne dafür einen materiellen Tauschwert zu ermitteln. Es war nicht einmal notwendig, dass sich Gebende und Nehmende persönlich begegnen mussten. Das Prinzip ist: Der Bücherschrank ist rund um die Uhr und das jeden Tag öffentlich zugänglich. Es galt und gilt jedenfalls die Publikationen vor Witterungseinflüssen – vor allem vor Nässe – zu schützen. Aber nicht nur das, zumeist versuchte und versucht noch man immer, den Einhausungen der Bücherregale zusätzlich ein feines und romantisches Aussehen zu geben.
In Wien wurde die erste dieser literarischen Tauschboxen vor rund fünfzehn Jahren aufgestellt. Einige Zeit hatte sie im siebenten Bezirk auf der Westbahnstraße – auch als Stolz ihres Schöpfers – ein solitäres Dasein. Doch es sprach sich herum und bald stieg auch die Nachfrage in der Nachbarschaft nach einer solchen Non-Profit Tauschstelle. Der Wiener Schöpfer wollte zwar kein Geld mit den zu tauschenden Druckwerken verdienen, aber für die Entwicklung des speziellen Designs des ersten Wiener Bücherschranks, hatte er sich nicht nur etwas einfallen lassen, sondern bot dieses quasi Patent gegen nicht ganz knappes Entgelt anderen Interessentinnen und Interessenten an.
Da in Wien die Aufstellung solcher Objekte freilich allerlei Regulierungen unterworfen ist, kosten allein die Erfüllung dieser nicht zu knapp. Dazu wären dann noch die Kosten für die kleinen Design-Kunstwerke gekommen. Da die Kultur traditionell unter Geldnot leidet, wurden alternative Lösungen gesucht. Eine recht einfache und kostengünstige waren so genannte Büchertaschen. Darunter kann man sich das vorstellen, worin seit vielen Jahren an den Sonntagen in Wien und anderen österreichischen Städten, Zeitungen zum „Selbstverkauf“ angeboten werden. Das war freilich eine Art „Fehlgeburt“. Warum? Das Fassungsvermögen dieser Taschen erwies sich für die Fülle der Bücher als viel zu klein. Zudem waren sie nicht so gut vor Nässe geschützt, was dem Zustand vieler Büchern nicht gut tat und auch Müll landete nicht selten drinnen.
Es kam der – wenn man es so nennen möchte – Zufall zur Hilfe. Mit rascher Verbreitung von Mobiltelefonen ging die Nachfrage nach öffentlichen Fernsprechstellen ebenso rapid zurück. Das bracht rasch so manche auf den Gedanken, die Telefonzellen nicht wegzuschaffen, sondern sie einfach einen anderen Zweck zuzuführen, zumal diese aus robustem Metall bestanden und bestehen. Die Bücherzelle war geboren. Man brauchte sie innen nur mit sehr einfachen Mitteln mit Regalbrettern auszustatten und schon hatte man eine beständige und kostengünstige kleine Tauschbörse für Druckprodukte. Sie alle haben sich sehr bewährt und sind wirklich gut frequentiert. Eine von diesen besonders frequentierten Bücherschränken, oder man müsst eigentlich sagen Bücherzellen, steht in Wien-Mariahilf im Schmalzhoftempelpark. Daneben befindet sich eine Parkbank, auf der ab und zu auch Wohnungslose schlafen. Einer von ihnen hatte die, im Bücherschrank angebotene, Literatur besonders ins Herz geschlossen. Immer wenn er dort schlief, hatte er ein Buch neben seinem Kopf liegen.
Allerdings braucht ein offener Bücherschrank nicht nur Physisches. Es bedarf auch guter Geister, die sich im Hintergrund um sein Wohlergehen kümmern. Was ist darunter zu verstehen? Nun, anfänglich wollte man etwa pornografische Bilder von Kindern fernhalten. Aber es geht vor allem auch darum, darauf zu achten das der Inhalt nicht verschmutzt wird und dass dort kein Tohuwabohu herrscht. Im Schmalzhoftempelpark sorgen zwei Damen aus der Nachbarschaft dafür, die nicht namentlich genannt werden wollen. Es sei ihnen hiermit gedankt.
Ein weiterer solcher Bücherschrank befindet sich im Hause der Mariahilfer Bezirksvorstehung, in der Amerlingstraße. Er hat allerdings nur während er Amtsstunden geöffnet. Und es gibt noch zwei weitere Varianten. In der Hofmühlgasse existiert seit einiger Zeit ein „Tauschbrett“. Dort können fast alle Dinge abgelegt werden, zumeist sind es aber Bücher. Wobei sich (vermeintliche) Gustostückerl kurz darauf im Schaufenster zum Verkauf angeboten, wiederfinden. In der Stumpergasse ist es eine der wenigen, noch existierenden altertümliche Drogerien, die im Eingangsbereich Bananenkartons stehen hat, wo Bücher abgegeben und entnommen werden dürfen.
Im Laufe der Zeit, sind – nicht nur – in Wien bereits einer Reihe solcher offener Bücherschränke – zumeist in ausrangierten Telefonzellen – entstanden und haben sich unauffällig, wenngleich beständig ins Alltagsleben integriert.
Abschließend sei noch ein interessantes Phänomen erwähnt. Viele Jahrhunderte lang, waren gesammelte Bücher – Bibliotheken – ein Schatz und gleichsam materialisiertes kulturelles Kapital. Die Bibliothek von Alexandria galt sogar als Art Weltwunder. Bibliothek war später vor allem der Stolz des Bildungsbürgertums. In den letzten Jahren hat sich eine neue, gegenläufige Entwicklung breit gemacht: Es werden viele Bücher gekauft, nicht alle gelesen, aber sie brauchen Platz, viel Platz. Dieser ist in den meisten Wohnungen nicht mehr im ausreichenden Maße vorhanden. Hat man in vergangenen Zeiten dann versucht, seiner Bibliothek den entsprechenden Platz zu „kaufen“, kann sich das heute kaum jemand mehr leisten. Also werden Bücher nicht mehr gehortet, sondern man trachtet sie wieder loszuwerden. Einige landen sogar im Altpapier, aber ein offener Bücherschrank ist allemal eine würdigere Möglichkeit. Auch wenn heutzutage weniger getauscht wird, sondern der Fluss des Gedruckten und Gebundenen tendenziell von Wohlhabenderen zu weniger Wohlhabenden geht. Was dem Ursprungsgedanken aber keineswegs Abbruch tut. (Kilian Franer, Wien, 23.01.2025)
