Der alevitische Islam auf dem Vormarsch

Was sich schon seit Jahren ankündigt, wird nun öffentlich: Die Aleviten erheben sich und protestieren gegen ihre öffentliche Diskriminierung. Sie wollen nicht länger hinnehmen, nach außen von einer islamischen Institution vertreten zu werden, mit der sie sich nicht identifizieren, und die sie ausgrenzt. Denn die Spitze der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ) hält das Alevitentum im Gegensatz zum österreichischen Staat für nicht-islamisch. Damit widerspricht sie dem Selbstverständnis eines Großteils der Aleviten.

Die Aleviten sehen sich als Muslime. Sie sehen ihre Religion als Urislam“, betonte Murat Yesilbas vom „Alevitischen Kulturverein Wiener Neustadt“ bei einer Pressekonferenz im Presseclub Concordia. letzte Woche Gemeinsam mit anderen Mitgliedern der „Plattform für eine ‚Islamische-Alevitische Glaubensgemeinschaft in Österreich’“ berichtete über eine eben eingereichte Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof gegen die Ablehnung des alevitischen Antrags auf eine eigene islamische Vertretung. „Vom zuständigen Kultusamt wurde unser Antrag vor zwei Monaten abgelehnt“, erzählt Riza Sari, Pressesprecher des „Kulturvereins der Aleviten in Wien“. „Aber nicht weil wir keine Muslime sind,  im Gegenteil: Unsere Zugehörigkeit zum Islam wurde ausdrücklich anerkannt. Wird sind abgeblitzt wegen des Islamgesetzes, das– anders als das Israelitengesetz – eine zweite islamische Religionsgemeinschaft nicht vorsieht.“

Der Staat rechnet die Aleviten – auch in der Volkszählung – zu den Muslimen. Für alle Muslime ist die offizielle IGGiÖ zuständig, doch diese richtet den alevitischen Muslimen in einem Schreiben aus, dass sie keine Muslime seien. So etwas  wie die Exkommunikation existiert im islamischen Glauben nicht. Exkommunikation ist der zeitlich begrenzte oder auch permanente Ausschluss aus einer religiösen Gemeinschaft oder von bestimmten Aktivitäten in einer religiösen Gemeinschaft. Sie wird als Beugestrafe angewandt, das heißt bis zur Beendigung bzw. Wiedergutmachung des Fehlverhaltens. Im Islam gibt es weder einen Papst als einen heiligen Vermittler zwischen Gott und Mensch noch die Sündenvergabe. Sogar der Prophet Muhammed kann zwischen Mensch und Gott nicht als Vermittler stehen. Deswegen sind die Aussagen von der Islamischen Glaubensgemeinschaft bezüglich Aleviten nicht nur falsch sondern auch eine große Sünde nach dem Koran laut Islamischen Experten.

Der einzige Weg aus der Sackgasse war eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof, die eine Änderung des Islamgesetzes verlangt. „Die Beschwerde stützt sich auf die Freiheit der Religionsausübung und auf den Gleichheitsgrundsatz“, erklärte der Wiener Rechtsanwalt Gerhard Koller, der die Aleviten vertritt. „Notfalls gehen wir bis zum Gerichtshof für Menschenrechte“, betonte Sari.

Die ausgegrenzte Religionsgemeinschaft ist groß: Geschätzte 60.000 Aleviten leben heute in Österreich. In allen Bundesländern haben sie Vereine und Jugendverbände. Für viele war ihre Zugehörigkeit zum Islam schon immer eine Selbstverständlichkeit. Murat Yesilbas ist ein Dede, ein geistlicher Leiter und somit direkter Nachfolger des Propheten Mohammed. Anders als bei den Sunniten wird der alevitische Islam durch Dedes, und nicht durch Schriftgelehrte, weitergegeben, die aus „heiligen Familien“ stammen müssen. „Heilige Familien“ führen sich genealogisch in männlicher Linie auf Mohammed und dessen Vetter Ali zurück. Das außerordentliche soziale Ansehen des Dedes, das ihre Führerschaft ermöglicht, beruht auf ihrer besonderen Abstammung.

Zum Beleg wurde dem VfGH der Stammbaum eines Dede beigefügt, der bis zum Propheten Mohammed zurückgeht. Insgesamt stellten sich fünfzig Dedes und mehrere alevitische Gemeinden Österreichs hinter das Anliegen und bekräftigten damit ihre Zugehörigkeit zum Islam. Als weiteren Beleg fügte Riza Sari seine Geburtsurkunde und Heiratsurkunde bei. „In beiden steht der Islam als mein Religionsbekenntnis“, so Sari. „Gleiches steht in den Geburtsurkunden meines Vaters und meines Großvaters. Immer wurde ich zum Islam dazugerechnet, und schon immer habe ich mich als dem Islam zugehörig gesehen. Nur die IGGiÖ erklärt mir: ‚Du bist kein Moslem.’ Personen, die in ihrer Geburtsurkunde ‚Islam’ stehen haben, werden von der IGGiÖ nicht anerkannt.“ Unterdrückung ist für die Aleviten nichts Neues. Trotz ihrer Verankerung im Ur-Islam wurden die Aleviten – wie auch die Schiiten – von Anfang an unterdrückt, und zwar von allen Herrscherdynastien des Kalifats – ob Osmanen, Abbasiden, Omaijaden oder selbst die ersten drei Kalife. Auch nach der von den Aleviten begrüßten Beseitigung des Kalifats durch Kemal Atatürk wurde ihre Gemeinschaft vom Staat nicht offiziell anerkannt. Nicht zuletzt um der Unterdrückung zu entkommen, verließen viele ihre Heimat. Nur hatten sie nicht damit gerechnet, auch in ihrer neuen Heimat Österreich auf Probleme zu stoßen, die eher für Saudi-Arabien charakteristisch sind. Weil die allseits anerkannte und hofierte offizielle Islamvertretung die Aleviten ausschließt, stehen sie ohne Vertretung da. „Wir anerkennen Schakfeh nicht, weil er uns nicht anerkennt“, meint dazu Yesilbas. „Die Frage ist: ‚Wie laizistisch ist Österreich?’ Wie weit mischt sich eine Religionsgemeinschaft in politische Angelegenheiten ein?“ Und Kazim Gülfirat, Obmann des „Kulturvereins der Aleviten in Wien“, legt nach: „Die Weltumma hat in der Vergangenheit bereits Leute ausgeschlossen. Bei den Aleviten stand hingegen nie zur Debatte, dass sie nicht zum Islam gehören.“

IGGiÖ-Sprecherin Carla Amina Baghajati begründete ihre Ablehnung der Aleviten als Muslime mit den fünf Säulen des Islam, die diese nicht teilen. Dazu Kazim Gülfirat: „Die Reduktion des Islam auf die fünf Säulen ist fraglich. Das wird auch unter den islamischen Gelehrten kontroversiell diskutiert. Es hat im Islam nie eine einheitliche Vertretung und Schule gegeben. Gerade die Stärke des Islam ist, dass er sehr vielseitig orientiert ist. Wenn sich jemand das Recht nimmt für alle Muslime zu sprechen hinfragen wir seine Position: Für mich ist Schakfeh keine islamische Autorität.“ Rückendeckung bekommen die Aleviten von der Initiative Liberaler Muslime in Österreich (ILMÖ). „Wir unterstützen diese Verfassungsgerichtshofbeschwerde“, betonte ILMÖ-Mitglied und Journalist Amer Albayati. „Die Aleviten sind ebenso wenig wie die Schiiten anerkannt. Österreich muss diese Diskriminierung beenden. Das ist international einzigartig. Man muss das Islamgesetz ändern.“

Die österreichische Gesetzgebung ist eine Hinterlassenschaft der Monarchie. 1912 wurde das Islamgesetz beschlossen, weil Kaiser Franz Joseph die bosnischen Elitereiter für sein Heer benötigte. Zu diesem Zweck musste er Ihnen gestatten, den Islam gemäß ihrem Ritus auszuüben, und das war damals der hanefitische Ritus, eine der vier sunnitischen Rechtsschulen. Vor 30 Jahren wurde auf Grundlage des Islamgesetzes die IGGiÖ eingerichtet. „Wir sind unseren bosnischen Brüdern dankbar für das Islamgesetz, aber es ist überholt“, betont Riza Sari.

Was die Aleviten aber erst der IGGiÖ auslieferte, war ein Beschluss des VfGH im Jahr 1988, der die Einschränkung der Anerkennung auf Anhänger „nach hanefitischem Ritus‘‘ aufhob. Damit vertritt die jetzige Islamvertretung alle Muslime. „Hier wurde in Österreich durch das Islamgesetz und die spätere Verordnung eine Zwangs- und Einheitsgemeinde geschaffen“, meint Gülfirat. „Es gibt auch keine christliche Institution, die alle Christen vertritt“, ärgert sich Sari. „Beim Christentum wurden verschiedene Konfessionen anerkannt. Auch beim Islam kann es keine Institution geben, die sagt: ‚Ich vertrete alle.’ Noch dazu, wenn diese Institution nicht einmal gewählt wurde.“

 

Schwer Geschütze gegen den IGGiÖ-Präsidenten Anas Schakfeh fährt Albayati von der ILMÖ: „Die IGGiÖ ist eine eigene Clique. Allein im sunnitischen Islam gibt es zwölf verschiedene Riten, die nicht alle vertreten sind. Warum bestimmt bei uns eine arabische Clique? Das ist wie in Saudi-Arabien. Leute, die mit Religion nichts zu tun haben und kein Deutsch können, geben bei uns den Ton an. Die Schiiten und Aleviten müssen daher endlich anerkannt werden.“

Gülfirat schwächt die Kritik an der IGGiÖ ab und legt mehr wert auf die Rechtslage: „Die Missstände in der IGGiÖ sind das Problem der IGGiÖ und des Staates. Wir haben nichts mit der IGGiÖ zu tun, aber wir haben auch nichts gegen die IGGiÖ. Wir können gar nicht von der IGGiÖ vertreten werden. Unser Kampf geht rein um die rechtlichen Rahmenbedingungen. Die Zeit ist reif, auch für die Politik, ein 100 Jahre altes Gesetz zu ändern. Unsere Beschwerde ist eine Chance, um uns zukunftsfit zu machen.“ Der alevitische Islam unterscheidet sich stark vom sunnitischen. „Wir sind eine eigenständige Konfession“, so Gülfirat. „Das Verbindende sind der Koran als Glaubensgrundlage und der Prophet Mohammed.“ Doch Pilgerfahrt nach Mekka, Fasten im Monat Ramadan, Almosen-Abgabe und die fünf Gebete am Tag gibt es bei den Aleviten nicht. „Es gibt keinen anderen Gott, außer Gott, Mohammed ist sein Prophet und Ali ist sein Freund“, lautet das alevitische Glaubensbekenntnis. Die Verehrung für Ali Ibn Abu Talib, den Vetter des Propheten Mohammed und vierten Kalifen, teilen die Aleviten mit den Schiiten.

„Wir sind in unserem Islamverständnis sehr weltlich orientiert“, erklärt Gülfirat. „Der Koran ist kein Gesetzesbuch, sondern ein Glaubensbuch. Bei uns steht dessen sinnmäßige Bedeutung im Vordergrund. Wir haben keine Scharia (= islamisches Gesetz). Es gibt nicht diese Unterscheidung zwischen Land des Islam und Land des Kriegs. Die Angehörigen der anderen Religionen sind keine Ungläubigen. Abfall vom Islam bedeutet bei uns nicht die Todesstrafe, weil jedes Lebewesen den göttlichen Funken in sich trägt. Daher wäre seine Tötung eine Sünde. Es gibt bei den Gebeten keine Trennung der Geschlechter, wie in den Moscheen.“ Aleviten fallen in unserer modernen Gesellschaft nicht auf, weil sie sehr anpassungsfähig sind. Sie tragen keine spezielle Kleidung oder Kopfbedeckung, die auf ihre Kultur oder Religion hinweist.  Religionsgeschichtlich gesehen gehören die alevitischen Muslime zur Schia, die eine Minderheit von etwa zehn Prozent des heutigen Weltislams ausmacht. Sie entstand unmittelbar nach dem Tode des Propheten (632 nach Christus) im Streit um die Führung der Gemeinde. Mohammed hatte keinen ihn überlebenden Sohn. Sein einziges leibliches Kind war seine Tochter Fatima, die mit Ali, einem Vetter des Propheten, verheiratet war und mit diesem zwei Söhne – Hasan und Hüseyin – hatte. Ein Teil der Muslime sah in Ali und seinen männlichen Nachkommen die legitimen Führer der Gemeinde, während der Rest die Ansicht vertrat, der Führer müsse lediglich aus dem Stamm Mohammeds, den Ummaya, kommen. Beim erbitterten Streit über die Führungsfrage verloren die Schiiten, Ali und alle seine Nachfolger fielen Attentaten ihren Gegnern zum Opfer oder erlitten einen grausamen Tod auf dem Schlachtfeld – wie Alis Sohn Hüseyin im Jahr 680 in der Schlacht bei Kerbela, die deshalb den Schiiten bis heute heilig ist.

Lediglich ein Nachfolger Mohammeds und Alis entging als Imam der schiitischen Gemeinde diesem Schicksal: der zwölfte, der Imam Mahdi (mahdi = „der von Gott rechtgeleitete“). Er verschwand als Kind im Jahr 874 auf geheimnisvolle Weise in die Verborgenheit. Er wird nach Überzeugung der Schiiten erst am Ende der Zeiten, vor der leiblichen Wiederkunft Jesu, wieder auftreten und für eine kurze Zeit eine perfekte Herrschaft errichten, bevor dann die Welt zu Ende geht.

Die Aleviten nahmen innerhalb der Zwölfer-Schia (die Bezeichnung bezieht sich auf die zwölf Imame) eine Sonderentwicklung ein. Sie teilen mit den Schiiten den Glauben an die legitime Führerschaft Alis und seiner elf Nachfolger sowie an die Verborgenheit und die Wiederkunft des Imam Mahdi, doch sie haben ganz andere religiöse Institutionen. Nicht in Moscheen, sondern in Cem-Häusern verrichten Aleviten das Gebet. Cem bedeutet Kreis, und ist eine religiöse wie soziale Versammlung, die mindestens einmal jährlich abgehalten wird, und Gericht und Versöhnung, Belehrung und Spiritualität beinhaltet. Aus Ansprachen und Unterweisungen von Dedes und von Laien, Gebeten und Segnungen besteht der Ablauf der mehrere Stunden dauernden Semah. Ein weiteres wichtiges Element ist der kultische Tanz zu den Klängen der Saz, einem traditionellen Instrument, das an eine Laute erinnert. Jede Person bringt nach Möglichkeit etwas Essbares mit, das am Schluss der Zusammenkunft an alle Anwesenden verteilt wird. Die Cem haben im Leben der alevitischen Vereine eine sehr wichtige Funktion, sie stehen aber nicht im Mittelpunkt.

Das Alevitentum war immer sehr integrationsfähig. Es nahm vorislamische wie christliche Elemente auf. Die um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Europa entstandene Annahme, es sei eine islamisch-christliche Mischreligion, ist allerdings unhaltbar. Gefördert wurde diese Ansicht durch den Umstand, dass die Aleviten den Koran, die christlichen Evangelien, die Thora und die Psalmen Davids als gleichwertige Offenbarungen anerkennen. Allerdings blieb das heilige Buch der Koran.

Die Aleviten haben ihr eigenes religiöses Gesetz. Körperstrafen gibt es nicht, die Kapitalstrafe ist die von einem religiösen Würdenträger ausgesprochene Verbannung aus der Gemeinde. Diejenigen sind gute Menschen, die Herr ihrer Hände, ihrer Zunge und ihrer Lenden sind – die somit nicht stehlen und von der eigenen Hände Arbeit leben, nicht lügen und nicht schlecht reden sowie nicht sexuell zügellos und untreu sind.  „Nachdem der Islam von einigen Anhängern in Verruf gebracht wurde, wollen wir zeigen: Es gibt auch einen anderen Islam“, meint Riza Sari. „Jetzt ist die Diskussion über den Status der Aleviten auch in der Türkei im Gange. Bei uns hat die Diskussion erst begonnen, als wir den Antrag auf eigene Vertretung eingereicht hatten. Bis dato waren wir nur ein Verein. Doch nun auf einmal werden wir zu Podiumsdiskussionen eingeladen.“

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