ÖVP Kurz – Integration: „Am Ende, die jüdisch-christlich geprägte Tradition Österreichs zu erhalten….“

Einspruch! Warum sollte man die Aussage "die jüdisch-christlich geprägte Tradition Österreichs bzw. Europas" nochmals überdenken?

Bitte nochmals überdenken

Von Birol Kilic – Analyse

Kurz: „Am Ende gehe es ihm und der ÖVP darum, die jüdisch-christlich geprägte Tradition Österreichs zu erhalten.“

Website des Zentralrats der Juden in Deutschland: „Die Juden sehen Deutschlands kulturelle Wurzeln keineswegs im Judentum. Ihnen sind vielmehr die Verbrechen Deutschlands (und deren Partner) gegenüber den Juden präsent.“

Eine als „Judensau“ bezeichnete mittelalterliche Schmähskulptur in der Außenwand der Stadtkirche Sankt Marien in Wittenberg. Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 gibt es Forderungen, das Relief zu entfernen und in ein Museum zu bringen
Eine als „Judensau“ bezeichnete mittelalterliche Schmähskulptur in der Außenwand der Stadtkirche Sankt Marien in Wittenberg. Anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 gibt es Forderungen, das Relief zu entfernen und in ein Museum zu bringen

„Die Gesellschaft hat sich durch Migration und Zuwanderung massiv verändert. Die ÖVP will daher Maßnahmen setzen, um die österreichische Identität zu bewahren“, erklärte ÖVP Türkis Parteichef Sebastian Kurz letzte Woche. „Zuwanderung und Migration verändern ein Land massiv“, sagt Kurz ebenfalls. Er meint das nicht nur positiv. Am Ende gehe es ihm und der ÖVP darum, die jüdisch-christlich geprägte Tradition Österreichs zu erhalten. (I)

Mit Verlaub: Welche jüdisch-christliche geprägte Tradition bitte?

Ich glaube diese Aussagen von Ex-Bundeskanzler Kurz betreffen auch insbesondere ca. 300.000 Menschen aus der Türkei in Österreich, wovon mehr als 200.000 österreichische Staatsbürger sind und nicht zuletzt ca. 800.000 Menschen mit muslimischen Glauben, muslimischer Tradition bzw. muslimischen Hintergrund. Wir sind die letzten Menschen, die gegen österreichische Traditionen, Bräuche und Sitten sind, ganz im Gegenteil. Immer wieder äußern wir seit Jahren, dass wir es besonders wichtig finden, dass Migranten die Sitten und Bräuche in Österreich, neben der deutschen Sprache, kennenlernen sollten und diese so wie sie sind akzeptieren sollen und sich denen so weit wie möglich anpassen sollten. Das ist etwas Schönes! Genau so erwarten es sich auch die Türkinnen und Türken in der Türkei, wenn jemand immigriert und viele Jahre sein Leben dort verbringt. Da ich seit über 30 Jahren gegen den legalistischen, politisierten Glauben bin und mit sehr vielen Fakten und Daten die Gesellschaft aufkläre, bin ich auch hier gezwungen, ein paar Tatsachen für eine nicht scheinheilige Diskussion, mit Verlaub, Tacheles darzulegen und zu Fragen: Welche jüdisch-christliche geprägte Tradition bitte?

 

Bitte nochmals überdenken

In aller Freundschaft bin ich der Meinung, dass Sebastian Kurz und auch Andere, den Begriff die jüdisch-christlich geprägte Tradition Österreichs bzw. Europas bitte nochmals überdenken sollten. Sogar die FPÖ verwendet den Begriff „die ‚jüdisch-christlich‘ geprägte Tradition Österreichs bzw. Europas“ seit einiger Zeit nicht mehr. 

Warum?

Weil bei den Juden in Deutschland und Österreich bzw. in Europa keineswegs die Vorstellung einer christlich-jüdischen Tradition herrscht. So kann man auf der Website des Zentralrats der Juden in Deutschland Folgendes lesen: „Historisch gesehen wurde die deutsche Identität nicht nur von der deutschen Sprache und Kultur, sondern auch von der christlichen Religion geprägt. Wer außerhalb dieser Parameter stand, wurde als fremd empfunden, und kaum eine andere Bevölkerungsgruppe erlebte das schmerzvoller als Juden, deren Präsenz auf deutschem Boden seit der Zeitenwende datiert. Das tragische Ende der jüdischen Bestrebungen um Aufnahme ins deutsche Volk ist bekannt.“  Die Juden sehen Deutschlands kulturelle Wurzeln keineswegs im Judentum. Ihnen sind vielmehr die Verbrechen Deutschlands (und deren Partner) an den Juden präsent.“

Prantl: „Prantl: „Missbrauch der Juden durch die Politik „

Bedenkliche Worte dazu fand dereinst der Journalist und Publizist Heribert Prantl in dem Artikel „Missbrauch der Juden durch die Politik“ in der Süddeutschen Zeitung: „Beim Reden von der christlich-jüdischen Tradition handelt es sich aber um eine gewaltige Heuchelei. Die deutsche bzw. europäische Politik drückt die alte, früher stigmatisierte Minderheit der Juden an die Brust, um die neue Minderheit, die Muslime, zu stigmatisieren. Die Juden werden missbraucht, um die Muslime pauschal als unverträglich zu kennzeichnen. Eingeführt hat diese Unwortkombination wahrscheinlich der blonde Holländer Geert Wilders. In seinen pathetischen Reden betonte er geradezu beschwörend, dass wir Europäer unser christlich-jüdisches Erbe vor der Islamisierung verteidigen müssten. So innig wie heute war die Beziehung zwischen Christen und Juden in Deutschland noch nie. Die neue Innigkeit ist nicht von Theologen und Pastoralklerikern ausgerufen worden, sondern von Politikern. Im Jahr 72 nach der Reichspogromnacht haben sie etwas entdeckt, was es nicht gibt: eine christlich-jüdische Tradition, eine gemeinsame Kultur. Die christlich-jüdische Geschichte besteht vor allem in der Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung der Juden und in der Verketzerung des Talmudes. Und wo es gemeinsame Wurzeln gab, hat die Mehrheitsgesellschaft sie ausgerissen. Wenn Juden anerkannt wurden, dann nach ihrem Übertritt zum Christentum. Und dieses Christentum hat bis in die jüngste Vergangenheit nicht die Gemeinsamkeit der Heiligen Schrift, sondern den Triumph des Neuen über das Alte Testament gepredigt. Zum 72. Jahrestag der Reichspogromnacht wird eine neue Kategorisierung der Minderheiten propagiert (nicht nur von scharfen Islamkritikern wie Geert Wilders und Thilo Sarrazin): in gute und schlechte, in kluge und dumme Minderheiten. Diese Sortierung wird nicht dadurch besser, dass muslimische Milieus oft sehr antisemitisch sind. Weil aber dieser Antisemitismus von der deutschen Mehrheitsgesellschaft lange kaum beachtet wurde, gibt es in jüdischen Gemeinden Sympathien für die gesellschaftliche Ausgrenzung deutscher Muslime.“

Was das „Judentum und Christentum“ eint und trennt

Zigtausende Bücher, Beiträge und Artikel beleuchten seit beinahe zweitausend Jahren das Verhältnis zwischen Judentum und Christentum. Anbei ein paar wenige Streiflichter der Kirchenzeitung am Sonntag. Wenn das Verhältnis von Judentum und Christentum vereinfacht auf einen Punkt gebracht werden soll, so lautet der Kernsatz des jüdischen Religionswissenschaftlers Schalom Ben Chorin:„Der Glaube an Jesu einigt uns… aber der Glaube an Jesu trennt uns.“

Was ist damit gemeint? Jesus war Jude, seine Mutter war Jüdin, die zwölf Aposteln waren Juden. Und doch trennt die Frage des Messias Christen und Juden erheblich. Die Juden hoffen noch immer auf das Kommen des Messias bzw. auf eine messianische Zeit. Die Christen Glauben an Jesus als Messias, dass Gott mit Hilfe von Jesus Christus den Christen solidarisch geworden ist. Sie erwarten seine Wiederkunft, sein Kommen in Herrlichkeit.

Der Talmud gibt dem heutigen Judentum sein Gesicht

Aus jüdischer Sicht muss es wie ein Hohn klingen, wenn deutsche Politiker von christlich-jüdischer Tradition sprechen. Der freie Journalist Gerald Beyrodt lehnt die Verbindung vom christlich-jüdischen ebenso ab: „Sicher teilen Juden und Christen die Zehn Gebote und die hebräische Bibel. Sicher wäre es auch ganz nett, wenn Politiker weniger bedenkenlos von den ‚christlichen Zehn Geboten’ reden würden als in der Vergangenheit. Doch 2000 Jahre jüdische Religionsphilosophie sind in Europa weitgehend unbekannt. Der Talmud gibt dem heutigen Judentum sein Gesicht. Christen haben ihn jahrhundertelang ignoriert, verfemt und immer wieder verboten. Jüdische Kultur blieb der Mehrheitsgesellschaft verborgen, weil sie nichts davon wissen wollte. Stattdessen hat sie Juden jahrhundertelang mit absurden Vorwürfen belegt: Dass sie Hostien schänden, dass sie christliche Kinder töten und zu Mazze-Broten verarbeiten und an Pessach genüsslich verspeisen.“

Stadtkirche zu Wittenbberg: „Judensau“

An der südlichen Außenfassade der Stadtkirche zu Wittenbberg, die als Mutterkirche der Reformation gilt, ist eine sogenannte „Judensau“ zu sehen. Das Spottrelief zeigt einen Rabbiner, der einem Schwein unter den Schwanz schaut. Mehrere Juden saugen zudem an den Zitzen des Tieres. Das Bild ist ein bösartiger Angriff auf die Juden und ihren Glauben. 1988 wurde im Auftrag der Stadtkirchengemeinde unterhalb der Darstellung eine Gedenkplatte in den Boden eingelassen. Sie soll auf die historischen Folgen des Judenhasses aufmerksam machen. Wissenschaftler unterscheiden zwischen dem religiös motivierten Judenhass des Mittelalters und dem modernen, von einer biologischen Rassentheorie geprägten, Antisemitismus aus dem 19. Jahrhundert. Auf diesen konnten sich Nationalsozialisten und deutsche Christen berufen. Kein Zufall, dass ein Thüringer Landesbischof 1938 darauf hinwies, dass die Synagogen in der Nacht auf den 10. November, Luthers Geburtstag, brannten. Und Julius Streicher, Herausgeber der Hetzschrift „Der Stürmer“, versuchte sich bei den Nürnberger Prozessen damit zu rechtfertigten, dass an seiner Stelle auch Martin Luther vor dem Tribunal hätte stehen können. (2)

Martin Luther war ohne jeden Zweifel ein theologisches und sprachschöpferisches Genie, sowie ein bedeutender politischer Denker, eine Figur von welthistorischer Wucht wie nur wenige seinesgleichen. Dass der, von ihm immer wieder stark gemachte, Gegensatz von „Evangelium und Gesetz“ – hier die in Christus widerfahrene Gnade, dort die Härte der in der Thora angedrohten Weisungen – den christlichen Antijudaismus weiter verstärkte und zuspitzte, wird dadurch, dass er in einer frühen Schrift feststellte, dass Jesus ein geborener Jude war, keineswegs gemildert. (3)

Eine Erfindung der europäischen Moderne?

Es können viele historische Beispiele angeführt werden, die eine christlich-jüdische Tradition in Deutschland, Europa bzw. Österreich ad absurdum führen. Die jüdische Philosophin Almut Shulamit Bruckstein Coruh kann, wie viele andere Juden, eine christlich-jüdische Tradition in Deutschland nicht nachvollziehen. Hierzu meint sie: „Nein, es gab keine jüdisch-christliche Tradition, sie ist eine Erfindung der europäischen Moderne und ein Lieblingskind der traumatisierten Deutschen.“

Ich hoffe ich kann damit, in aller Freundschaft, zumindest für die weitere Forschung einen Überblick verschaffen.
(Birol Kılıç, yenivatan.at, 15.09.2019, Wien)

Quelle:
(I) ÖVP Wahlprogramm für Integration und Migration: Kultur und Tradition
https://www.yenivatan.at/oevp-wahlprogramm-fuer-integration-und-migration-kultur-und-tradition/

 

 

Relevante Artikel

Back to top button
Cookie Consent mit Real Cookie Banner